Whitley Strieber
Achterbahnen und zogen in Kriege. Miriams Theorie war, dass Men- schen tatsächlich eine Seele hatten und es im Innersten auch wuss- ten. Deswegen hatten sie so bereitwillig Sex mit ihr, angezogen von der Gefahr, die sie unbewusst spürten. Eigentlich hatten die Menschen gar keine Angst vor dem Tod. Er war für sie nichts anderes als ein wei- terer aufregender Zeitvertreib.
Für einen Hüter bedeutete der Tod, den Kosmos auf ewig zu verlas- sen.
Das Flugzeug neigte sich in die Horizontale. Anhand seiner Bewe- gungen und Geräusche wusste Miriam exakt, was es in jedem Augen- blick des Fluges tat. Im Grunde hätte sie es auch selbst fliegen kön- nen. Sie hatte sich an ihrem PC mit einem Flug-Simulator das Fliegen
beigebracht, nur für den Fall, dass irgendein Pilot am Flugzeug-Essen oder etwas anderem starb.
Zwei Kinder sahen sie über die Sitzlehne vor ihr schüchtern an. Asia- ten starrten Europäer ständig an, aber in den Augen der beiden Kinder vor ihr lag nicht bloß Neugier. Miriam wusste, dass sie ihre Sitznach- barn mit zunehmender Flugdauer immer unruhiger machen würde. Die Gegenwart eines Hüters weckte in ihnen Instinkte, die den fast an der Spitze der Nahrungskette stehenden Menschen so unvertraut waren wie für einen Hüter das Gefühl von Furcht. Was ein Mensch in Gegen- wart eines Hüters empfand, war dasselbe, was eine Maus im Ange- sicht einer Schlange empfand – eine Art schreckliche, unausgespro- chene Frage.
Die Stewardess kam den Gang hinunter; ihr Lächeln erlosch, als sie Miriam erblickte. Sie schob einen Wagen mit abgepackten Mahlzeiten vor sich her und stand nun ganz nahe bei ihr, während sie den Flug- gästen auf den umliegenden Plätzen das Essen reichte.
Ihr Blut hatte einen leichten, unauffälligen Duft, wie ein Beaujolais aus einem uninteressanten Jahrgang. Dennoch würde es weich und warm und wundervoll hinabrinnen. Miriam hielt die Augen geschlossen und atmete so flach wie möglich.
Da sie nie erraten hätte, dass Miriam durch ihre geschlossenen Au- genlider sehen konnte, nutzte die Stewardess die Gelegenheit, die groß gewachsene Europäerin einen Augenblick lang zu studieren. Mi- riam sorgte sich wegen ihres wahrscheinlich zu schwachen Make-ups. Ihre Hautfarbe musste inzwischen erschreckend aussehen. Sie war blass wie eine Leiche. Aber sie hatte Durst, also musste sie die Frau ansprechen und das Risiko eingehen, erneut ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Entschuldigen Sie bitte.«
Die Stewardess hielt inne und verzog ihr Gesicht zu einem sorgfältig einstudierten professionellen Lächeln. »Yis«, sagte sie, eines der wahrscheinlich wenigen ihr bekannten englischen Worte stammelnd. Yis. Nah. Okeh.
»Wasser«, sagte Miriam und deutete auf die Flasche mit der blauen Thai-Aufschrift.
Die Frau reichte ihr das Wasser und wandte sich rasch um. Das Flugzeug wackelte leicht, das Geräusch der Triebwerke änderte sich. Miriam fummelte nervös an der Wasserflasche herum. Sie wusste, dass die neuen Geräusche nicht ungewöhnlich waren, trotzdem beun- ruhigten sie sie.
Die Maschine wackelte erneut. Sie gingen herunter, ohne Zweifel. Es schien jedoch kein Notfall zu sein. Die Triebwerke waren in Ordnung, das konnte man deutlich hören. Aber was, wenn sie Probleme mit dem Leitwerk hatten?
Sie atmete tief durch, war bereit, jeden Moment aufspringen und sich einen Fluchtweg durch den Rumpf reißen zu müssen.
Aber nein, das Flugzeug landete. Oder genauer, es begann seinen Landeanflug. Sie zog den Reiseplan aus ihrer Handtasche. Ja, der Flug dauerte vierzig Minuten, und sie würden exakt zur angegebenen Zeit landen.
Das plötzliche Ausfahren der Höhenruder machte einen Heidenlärm. Miriam saugte vor Schreck so kräftig an der Wasserflasche, dass der Flaschenhals an ihre Zähne stieß und sie versehentlich hineinbiss. Das Glas zerplatzte, Wasser spritzte ihr auf den Oberkörper. Sie rieb sich die Brust ab und stopfte die zerstörte Flasche zwischen die Sitze. Sie starrte geradeaus und beachtete ihr kleines Missgeschick nicht. Die übrigen Fluggäste hatten ohnehin nichts bemerkt. Sie waren zu sehr mit ihrem Essen beschäftigt.
Die Kabinenluft war dermaßen mit dem Geruch menschlichen Blutes geschwängert, dass sie sich am liebsten – wie ein Weißer Hai im Blut- rausch – einem tollwütigen Fressanfall hingegeben hätte. Genau, Das Große Fressen .
Sie war noch nie mit so großem Hunger in ein Flugzeug gestiegen und schwor sich, es auch nie wieder zu tun. Sie hätte den
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