Whitley Strieber
Schlaf. Die ent- setzlichen Schreie verwoben sich zu einem düsteren, namenlosen Alb- traum, den die Droge aus dem Tropf wenig später in gegenstandslose schwarze Leere verwandelte.
Miriam hielt Leos Handgelenk fest und ließ selbst dann nicht los, als sich die verschrumpelte, ausgetrocknete Hand hob und sich langsam um Leos Finger schloss. Sie spürte die eigenartige Kraft der Leiche, sah den Funken des Lebens in den welken Augen.
Sie hielt den Anblick nicht aus, konnte die Berührung nicht ertragen. Und sie verstand nicht, was all die Särge auf dem Dachboden zu su- chen hatten.
»Mach die Augen auf!«, sagte Miriam. »Sieh ihn dir an!«
»Das tue ich doch! Aber ich verstehe nicht, wie er noch –«
»Du dummes kleines Ding – hast du wirklich geglaubt, du würdest keinen Preis zahlen müssen?«
»Er soll mich loslassen! Bitte!«
Miriam zog sie von Johns Sarg fort. Seine Finger hielten Leos Hand
umklammert, weswegen sich die Leiche ein Stück aus dem Sarg hob. Als ihre Hand seinem Griff entglitt, fiel die Leiche mit einem dumpfen Knall zurück. Miriam schlug den Sargdeckel zu.
»Aber er ist nicht tot! Wir müssen ihm helfen!«
»Wie mitfühlend du bist.« Sie trat zu Sarahs Sarg. »Aus dem hier kommt deine Freundin.«
»Welche Freundin?«
»Sarah. Dieser langweilige kleine Zombie.«
»Zombie?«
»Nachdem ich ihr mein Blut gab, hat sie sich die Pulsadern aufge- schnitten. Aber sie ist hochintelligent. Sie hinterließ mir die nötigen Kenntnisse, um sie wieder zum Leben zu erwecken.« Ihr Blick wan- derte zu Johns Sarg. »Schade, dass es für ihn schon zu spät ist.« »Aber sie – ich verstehe das alles nicht!«
»Da jetzt mein Blut in deinen Adern fließt, Leonore, kannst du nicht mehr wirklich sterben. Doch du bist nicht wie wir. Wir haben keine Seelen. Du hingegen schon, und durch mein Blut ist sie für alle Zeiten an deinen Körper gefesselt.« Ihr Blick wanderte durch den Raum. »Das ist dein Schicksal.«
Leo wich vor Miriam zurück. Sie musste diesen schrecklichen Dach- boden verlassen; sie musste ein Heilmittel finden. Das alles war – un- vorstellbar. Denn wenn sie nicht selbst in einem solchen Sarg enden wollte ... musste sie Zeit ihres Lebens Menschen töten.
»Sarah ist eine Sklavin geworden. Sie ist keine frei denkende Seele. Sie ist langweilig, und ich hasse Langeweile!«
»Langeweile?«
»Natürlich! Das ist doch kein Leben, sich immer verstecken zu müs- sen. Ich bin eine Prinzessin, keine billige Diebin! Ich möchte mich mit Philosophen und Königen umgeben, nicht mit dem dekadenten Ab- schaum, den ich gegenwärtig anziehe.«
Leo war noch nie zu einer so unfassbaren, ganz und gar unvorstell- baren Erkenntnis gelangt, aber endlich begriff sie, in welch entsetzli- cher Lage sie sich befand. »Du hast mich meiner selbst beraubt«, sagte sie. Sie war verwundert über die seltsame Anziehungskraft, die allem Entsetzen zum Trotz vom Bösen ausging. »Ich bin zu einer Skla- vin geworden.«
»Nein! Nein! Du bist nicht wie sie. Nachdem ich sie wieder zum Le- ben erweckte, war ihr freier Wille verschwunden. Sie ist sich dessen bewusst, kann aber nichts dagegen tun. Sie ist sogar nach Haiti geflo-
gen, um alles über Zombies und über ihr eigenes künftiges Schicksal zu erfahren.« Sie lachte leise. »Du glaubst gar nicht, wie langweiligsie ist!« Sie zupfte an Leos Hand. »Du dagegen wirst großartig sein. Du hast deinen eigenen Willen. Du bist rausgegangen und hast dir – ent- gegen meiner ausdrücklichen Anordnung – ein Opfer gesucht. Du hast es auf deineArt gemacht. Weißt du, was für ein Gefühl mir das gibt?« Sie nahm Leos Hand und blickte zu Johns Sarg hinüber. »Seit er von mir ging, war ich allein. Jetzt bin ich es nicht mehr.«
»Was ist mit Sarah?«
»Du bist allerdings noch ein bisschen einfältig. Aber das macht nichts, denn du hast eine gute Grundintelligenz. Ich werde dich unter- richten. Weißt du, was du sein wirst? Warum ich dich bei mir aufge- nommen habe?«
»Warum?«
»Weil du die Gouvernante meines Sohnes werden wirst.«
»Mein Gatte«, sagte der Vampir, »endlich bist du erwacht. Willkom- men im Leben!«
Er hatte keine Ahnung, was er auf die Bemerkung erwidern sollte. Aber bei einem so intelligenten Tier wie diesem wusste man eben nie, mit welchem Spruch es an einen herantreten würde.
Miriam nahm seine Hand in ihre schlanken Finger, die er so liebevoll geküsst hatte. Er spürte, wie sich ihm bei dem Gedanken, mit seinen Lippen diese Haut berührt zu
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