Whitley Strieber
leisen Summton, mit dem Ward jemanden in sein Zimmer rufen wollte. Er war nun zum ers- ten Mal seit der Operation vor fünf Tagen völlig wach. Er wird gesund, dachte sie. Sie konnte nicht anders, als einen Anflug von be- ruflichem Stolz zu empfinden. Sie hatte einem Menschen das Leben gerettet, der eigentlich hätte sterben müssen.
Die Musik endete. Miriam stand auf. Sie wandte sich um und trat auf die beiden Frauen zu, ihre wallende Schmetterlingsrobe hinter sich herziehend, eine brennende Zigarette zwischen den schmalen Lippen, in den Augen ein wütendes Blitzen. »Wo zum Teufel warst du?«, fauchte sie.
»Ich?«
Miriams Blick wanderte zu Sarah. »Sie hat die Leiche draußen liegen lassen«, sagte Sarah. »Im Hals des Toten steckt meine Lanzette.« Miriam trat dicht an Leo heran. Lange Finger packten deren Kehle. »Ist dies deine Art, mir deine Dankbarkeit zu demonstrieren?« Leo versuchte sich dem Griff zu entwinden. »Ich habe den Mann in den East River geworfen. Er ist verschwunden.«
»Eine Leiche ist niemals wirklich verschwunden, wenn man sie nicht verbrennt«, brüllte Miriam.
Sie hatte ein- oder zweimal angedeutet, dass sie sich eines mensch- lichen Gefährten entledigt hatte, der sich nicht an die Regeln hatte hal- ten können. Einen Augenblick lang glaubte Sarah, Miriam würde Leo auf der Stelle umbringen.
Aber dann warf Miriam den Kopf zurück und lachte. Es war ein ei- genartiges, fast lautloses Lachen. »Komm mit«, sagte sie zu Leo. »Wohin?«
Miriam packte Leos Handgelenk und zog sie zur Treppe. Sarah stand auf und wollte den beiden folgen. Miriam bremste sie. »Mein Gatte ruft dich«, sagte sie. »Hörst du nicht den Summton?«
Paul vernahm ein Geräusch hinter der geschlossenen Tür seines Krankenzimmers. Er hatte mindestens fünfzig Mal den Rufknopf ge- drückt. Er setzte sich auf. »Schwester«, sagte er. Das eine Wort raubte ihm schon den Atem, und er sank keuchend in das Kissen zu- rück.
Als er Sarah Roberts' Gesicht erblickte, war er so überrascht, dass ihm ein krächzendes »O Scheiße!«, entfuhr.
Sie sah bildschön aus mit ihren glänzenden dunklen Augen. Er ver- suchte die Arme zu heben, um ihr einen Fausthieb zu versetzen, doch etwas hielt ihn auf.
Er war an das Bett gefesselt. »Mist!«
»Oh, es geht Ihnen besser«, sagte Sarah.
Er prüfte seine Lage. Beide Handgelenke und Fußknöchel waren mit Ketten ans Bett gefesselt. Er hatte knapp einen Meter Bewegungsfrei- heit; deswegen hatte er die Ketten erst bemerkt, als er die Arme zu he- ben versuchte.
»Wo zum Teufel bin ich?«
»In meiner Krankenstation.« Sie kam zu ihm herüber. Gleich würde er sie packen. »Ich bin Ärztin.«
»Sicher.«
»Sie haben einen Lungenschuss überlebt. Sie können mir ruhig glau- ben, dass ich Ärztin bin.«
»Sie ernähren sich von Menschenblut. Wie können Sie da Ärztin sein?«
Sie kam näher heran. »Ich muss mir die Wunde ansehen«, sagte sie. Ihr bisher neutraler Tonfall klang plötzlich düster – oder nein, traurig. Er klang traurig.
Er war bereit, sie zu packen. Was er danach tun würde, wusste er nicht. Er wusste nur eines: Dies war die schlimmste Lage, in der er
sich jemals befunden hatte, und er musste sich schleunigst etwas ein- fallen lassen, um wieder Herr seiner selbst zu werden.
Sie schlug die Decke zurück, nur beiläufig seine Nacktheit beach- tend. Sie löste den Verband, der seinen halben Brustkorb bedeckte. Als sie die Wunde zu untersuchen begann, drang ein Geräusch durch die offene Tür. Jemand schrie. Sogar während er hier lag, gin- gen irgendwo im Haus die Vampire ihrem blutigen Geschäft nach. Er war nicht so schnell wie sonst, doch es gelang ihm, Sarahs Arm zu packen. Ein Mullverband flog ihr aus der Hand, als er sie mit einem Ruck zu sich heranzog.
Im nächsten Moment blickte er in den Lauf seiner Magnum. »Miststück«, sagte er.
»Sie sind das Miststück! Ginge es nicht nach Miriam, wären Sie längst tot, Sie gottverdammter Scheißkerl!«
Sie griff nach dem Tropf und öffnete den Hahn. Seine Aufmerksam- keit verlor sich. Sarahs Bild verschwamm, dann schien sie über ihm zu schweben wie eine zum Himmel aufsteigende Madonna.
Die Schreie schwollen an und verklangen wie eisige Windstöße im Hochgebirge. Sarahs kalter, mörderischer Blick bohrte sich in ihn. Trotz seines lodernden Hasses und seines nagenden Wunsches, aus dem Bett zu springen, ihr die Waffe aus der Hand zu schlagen und ihr – buchstäblich – den Kopf abzureißen, sank er in den
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