Whitley Strieber
umbringen würde.
Miriam liebte ihn, aber sie waren trotzdem auf der Hut. Sie beobach- teten jede seiner Bewegungen mit Videokameras und ließen das Kran- kenzimmer verschlossen. Er nahm alles widerspruchslos hin, lieferte keinen Hinweis darauf, Fluchtgedanken zu hegen. Er saß auf seinem Bett, las Krieg und Friedenund hörte sich massenweise Opern-CDs an.
Er aß Unmengen von Steaks, seit jeher sein Lieblingsgericht. Manch- mal bat er um thailändisches Essen. Alles, was er vorgesetzt bekam, war hervorragend gekocht. Er fragte sich, ob Drogen darunter ge- mischt waren. Zu den Steaks gab es immer Weine, die tausende von Dollars kosteten, zum Beispiel einen 45er Chateau Lafite-Rothschild oder einen 36er Chateau Latour.
Er lachte mit seinen Peinigern. Er war zuvorkommend. Wenn Miriam sich freudestrahlend an sein Bett setzte, ließ er sich von ihr küssen, obwohl es ihm schwer fiel. Wenn sie seine Hand auf ihren Bauch legte, auf dem sich ihrer Meinung nach bereits eine leichte Wölbung zeigte, setzte er ein freudiges Lächeln auf.
»Wenn man bedenkt, wie sehr er die Hüter hasst«, sagte Sarah zu Miriam, »hätte man, als er erfuhr, was er ist, eigentlich eine heftigere Reaktion erwarten können.«
»Sarah, der Mann ist verliebt. Ihm ist klar geworden, dass er einer von uns ist. Er erkennt, dass unser Handeln nicht unmoralisch ist. So- gar seine Arbeitgeber haben dies erkannt. Sein Hass verfliegt allmäh- lich. Deswegen ist er so still. Dies ist eine sehr gedankenvolle Phase in seinem Leben.«
»Trotzdem finde ich, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, wenn du ihn aus dem Krankenzimmer lässt.«
»Ach, komm schon. Sei nicht paranoid.«
»Bisher fand ich immer, dass du ein bisschen paranoid bist, Miri.« »Wie auch immer. Er ist mein Mann, und ich möchte ihn in meinem Bett haben. Ich möchte ihn endlich wieder in mir spüren, Sarah.«
»Die Sache gefällt mir nicht. Ich halte das alles für falsch.«
»Was meinst du, Leo?«
»Ich finde, er ist ein sehr gut aussehender Mann.«
Am Tag seiner Freilassung kamen sie mit einem dreißig Jahre alten Yquem und einer Obst-und-Cognac-Torte herunter, die sie nach einem meisterhaften Rezept aus dem achtzehnten Jahrhundert gebacken hatten. Miriam, die bester Laune war, schob Paul eine Kirsche in den Mund. Er schnappte sie mit den Zähnen und biss genießerisch hinein. Miriam zeigte ihm das ganze Haus, außer dem Dachboden. Sarah wartete ab und beobachtete die beiden. Sie versuchte Leo zum Mitmachen zu animieren, aber Leo war noch sorgloser als Miriam. In Sarahs Augen war Leo ein dummes junges Ding. Sarah bemerkte eine subtile Veränderung in ihrer eigenen Persönlichkeit. Sie war zu ei- ner Erkenntnis gelangt, die, wie sie fand, den Gedanken eines Solda- ten in einer schrecklichen Schlacht ähnelte. Es war das unbestimmte Gefühl, dass es für sie alle kein Entkommen geben würde und dass das, was Miriam tat, so töricht war, dass es zu nichts anderem als zu ihrer aller Vernichtung führte.
Wie konnte es sein, dass jemand, der seit so langer Zeit lebte, der so viele Bedrohungen überstanden hatte und nun ein Baby unter dem Herzen zu tragen glaubte, bereit war, sich und sein Kind einer solchen Gefahr auszusetzen?
Miriam war ihre beste Freundin. Sarah kannte jede ihrer Launen, konnte auch den kleinsten Stimmungswechel am Ausdruck ihrer Au- gen ablesen und führte mit ihr eine erfüllte, seit mehr als zwei Jahr- zehnten andauernde Intimbeziehung. Miriam schenkte ihr Freund- schaft und Liebe und Loyalität. Aber nun, fand Sarah, hatten sie einen äußersten Punkt erreicht, einen Punkt in dem eigenartigen Bereich der Gedankenwelt eines Hüters, den sie mit ihrem Verstand nicht zu fas- sen vermochte.
Ihr Handeln ließ nur einen einzigen Schluss zu: Tief im Innern sehnte Miriam sich danach, vernichtet zu werden, genau wie der Rest ihrer Rasse auch. Sie hegten einen Todeswunsch, denn warum war es sonst so einfach, derart intelligente und weise Geschöpfe umzubrin- gen? Hüter mochten die Wissenschaft des Menschen nicht verstehen, aber sie verstanden seinen Geist, und dies war das entscheidende Wissen, das sie zu ihrer Selbstverteidigung brauchten.
Dass sie sich nicht richtig zur Wehr setzten, war, soweit es Sarah be- traf, ein Akt willentlicher Selbstaufopferung. Sie mussten dies schon
vor Äonen an sich erkannt haben, wahrscheinlich in dem Augenblick, als der Mensch intelligent wurde. Deswegen hatten sie versucht, die beiden Spezies miteinander zu kreuzen. Sie hatten
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