Whitley Strieber
wahres Glück äußerst selten ist. Heute war sie sich dessen bewusst. Sie genoss dieses Hochge- fühl, das neben Paul vor allem von dem Baby in ihrem Bauch her- rührte, ihrem eigenen Baby nach all den langen Jahren. Das Problem war, dass ihr Mann sich gegen sich selbst wandte – er war ein Hüter, der seine eigene Rasse hasste. Zugegeben, er würde nicht ewig leben und ernährte sich nicht von Blut, doch er war trotzdem ein Hüter, und sie würde noch einige Überzeugungsarbeit bei ihm leisten müssen, bis er diese Tatsache akzeptierte. Sie sehnte sich danach, ihn in ihre ma- gische Welt zu ziehen und war überzeugt, dass ihr dies auch gelingen würde. Was sie plante war eine Verführung der Sonderklasse. In der guten alten Zeit hatten männliche Hüter ihr kaum widerstehen können, und sie hatte nichts von ihren Verführungskünsten verloren.
Aber das kam später. Zuerst musste sie ein Tor durchschreiten, ein essentiell wichtiges Tor. Während die Tage verstrichen, wurde sie im- mer beklommener. Am liebsten hätte sie die Uhr zurückgedreht und verhindert, dass am Morgen die Sonne aufging. Aber die Sonne ging allmorgendlich auf, die Tage verstrichen, und ihr Baby wuchs und wuchs.
Ab heute, hatte Sarah gemeint, würde das Baby so weit entwickelt sein, dass man es erkennen konnte. Wie alle Hüter-Mütter kannte Miri bereits das Geschlecht ihres Kindes: Es würde ein Junge sein. Aber wie war sein Zustand? Hatte er irgendwelche Missbildungen? Nie- mand wusste, was geschehen würde, wenn ein Hüter von einem die- ser Exoten wie Paul befruchtet wurde.
Am Mittag kam Sarah zu ihr. Miriam saß in der Bibliothek und unter- richtete Leo. »Wir können loslegen«, sagte Sarah. Sie lächelte Miri lie- bevoll an. Seit einigen Tagen war sie besonders freundlich und auffal- lend ernst. Sie strahlte eine Traurigkeit aus, die Miriam beunruhigend fand. Sarah glaubte, dass sich ihr gemeinsames Leben dem Ende zu- neigte.
Sie täuschte sich natürlich. Sie musste ihr bei der Geburt helfen, und anschließend würde sie ihre persönliche Kinderärztin und Gynäkologin sein. Sarah glaubte, Leo würde sie ersetzen. Sie begriff nicht, dass sich Miriams Bedürfnisse ausweiteten.
Die drei Frauen gingen in das Labor hinunter.
Sarah hatte das beste und neueste Ultrallschallgerät gekauft, damit
das Baby fast so scharf wie auf einem gewöhnlichen Foto zu erkennen sein würde.
Miriam legte sich auf den Untersuchungstisch.
»Ist es radioaktiv?«, fragte Miriam nervös.
»Nein. Es sendet Schallwellen aus und errechnet anhand der Rück- strahlungen ein Bild. Es ist völlig ungefährlich, aber um ganz sicher zu sein, werden wir es nur für wenige Minuten benutzen.«
Miriam lag mit geschlossenen Augen da und wartete, am ganzen Leib zitternd. Falls das Ergebnis negativ ausfallen sollte, wusste sie nicht, ob sie die Kraft haben würde, um damit fertig zu werden. Am lie- bsten würde sie dann sterben, doch die Frage war, wie?
Sie spürte, wie das kühle Plastik über ihren inzwischen schon leicht gewölbten Bauch glitt ... oder bildete sie sich die Wölbung bloß ein? Sie streckte die Hand aus, und Paul ergriff sie. Sie hatten sich in letz- ter Zeit einige Male geküsst, doch er wirkte noch immer etwas distan- ziert. Aber er stellte keine Bedrohung mehr dar, seit er erfahren hatte, dass ein Teil von ihm ein Hüter war. Zumindest glaubte sie das. »Miri, schau.«
Auf dem Bildschirm zeichneten sich die Umrisse eines Geistes ab. Er hatte einen kleinen Mund und winzige, noch nicht voll ausgebildete Hände.
Sie öffnete die Augen und starrte auf den Bildschirm. Sie hatte immer Schwierigkeiten gehabt, von Maschinen generierte Bilder zu deuten, und zuerst sah sie bloß ein aus verschiedenen Grautönen bestehen- des Schmierbild.
»Dort sind die Hände«, sagte Sarah und deutete auf einen etwas we- niger verschwommenen Teil des Bildschirms.
»Oh, hey«, sagte Paul, »das ist mein Sohn.«
Miriam sah nichts ... und dann tat sie es doch. Ein winziges Gesicht war zu erkennen. »Er ist – oh, er ist wunderschön .«
»Hat er schon Zähne?«, fragte Paul.
»Sein Mund ist menschlich«, sagte Sarah.
Miriam verspürte einen Anflug von Sorge. »Wie wird er sich ernäh- ren, Sarah?«
»Nicht wie du.« Sarah untersuchte das Blut des Fötus. Er war zu neunzig Prozent ein Hüter.
»Wird er nicht verhungern?«
»Miri, seine Organe sehen wie die eines Menschen aus, und er hat fast reines Hüter-Blut. Es kann gut sein, dass er – nun, dass er ewig
leben
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