Wicked - Die Hexen von Oz

pickten. Er war noch immer nicht tot.
    Â»Es ist nicht schwer, in dieser Welt auf böse Ideen zu kommen«, sagte die Hexe. »Das Böse lässt sich irgendwie immer leichter ausdenken als das Gute.« Aber die Heftigkeit, mit der der Kommandeur gegen einen seiner eigenen Männer vorgegangen war, bestürzte sie. Dorothy war also wahrscheinlich noch am Leben und stand offenbar unter dem Schutz der höchsten militärischen Instanzen im Land.
    Liir hatte Plapperaff auf dem Schoß und schluchzte ihm ins Kopffell. Plapperaff sagte: »Heul weil Beul heil eil«, und er weinte mit ihm.
    Im Schutz der Dunkelheit stahl sich die Hexe auf ihrem Besen davon und beendete das Leiden des gefolterten Soldaten.
    Eines Nachmittags dachte sie unerklärlicherweise an das Löwenjunge in Shiz, das seiner Mutter entrissen und von Doktor Nikidik als Versuchsobjekt missbraucht worden war. Sie erinnerte sich, wie es sich ängstlich geduckt hatte und, wie sie sich darüber empört hatte.
    Falls es derselbe Löwe war, wider die Natur zu einem Feigling herangewachsen, dann dürfte er mit ihr kein Hühnchen zu rupfen haben. Sie hatte ihn gerettet, als er noch jung war. Oder?
    Sie verwirrten die Hexe, diese Ritter von der Gelben Ziegelstraße. Der blecherne Holzfäller war hohl, eine Tiktaknull – oder ein verzauberter, ausgeweideter Mensch. Der Löwe war ein Wesen, das gegenseine eigenen natürlichen Instinkte handelte. Mit Tiktakautomaten konnte sie umgehen, mit Tieren verstand sie sich gut. Aber wen sie fürchtete, war die Vogelscheuche. War sie verzaubert? War sie eine Maske? Versteckte sich darin lediglich ein geschickter Tänzer? Alle drei waren auf die eine oder andere Art entmannt, von der Unschuld des Mädchens verblendet.
    Sie konnte sich vorstellen, dass der Löwe das missbrauchte Junge aus einem Labor an der Akademie Shiz war. Sie hatte den Verdacht, dass Nils Hacker der heimtückischen Magie ihrer eigenen Schwester zum Opfer gefallen war, der von ihr verzauberten Axt. Aber die Vogelscheuche konnte sie nirgends unterbringen.
    Ihr kam allmählich der Gedanke, dass sich hinter dem mit einem Gesicht bemalten Getreidesack ein wirkliches Gesicht verbarg, das sie kannte, ein Gesicht, auf das sie schon lange wartete.
    Sie zündete eine Kerze an und sprach es laut aus, als ob sie tatsächlich zaubern könnte. Die Worte wehten die graue Rauchfahne zur Seite, die von dem Talgstengel aufstieg. Ob sie noch etwas anderes bewirkten, wusste sie nicht. »Fiyero ist nicht tot«, sagte sie. »Er wurde gefangengenommen, und er ist entkommen. Er kommt zurück nach Kiamo Ko, er kommt nach Hause zu mir, und er hat sich als Vogelscheuche verkleidet, weil er noch nicht weiß, was ihn erwartet.«
    Es brauchte Verstand, um sich einen solchen Plan auszudenken.
    Sie suchte ein altes Hemd von Fiyero hervor. Sie rief den alten Mordefroh, ließ ihn ordentlich schnuppern und schickte ihn dann jeden Tag hinunter ins Tal, damit er die Reisenden, falls sie auftauchten, aufspüren und freudig heimführen konnte.
    Und obwohl sie versuchte, nicht einzuschlafen, konnte sie es doch hin und wieder nicht verhindern. Ihre Träume brachten Fiyero der Heimat immer näher.
    15
    Eines Tages, während der ersten Herbststürme, kam unten im Lager Bewegung in die Fahnen und Standarten, und Hörnerklang schallte blechern zur Burg hinauf. Daher vermutete die Hexe, dass der Trupp in Rotmühlen eingetroffen war und einen königlichen Empfang bereitet bekam. »Sie sind so weit gekommen, sie werden jetzt nicht mehr warten«, sagte sie. »Lauf, Mordefroh, lauf zu ihnen und zeige ihnen den schnellsten Weg hierher.«
    Sie ließ den Hund von der Leine, und sein Bellen hatte so eine aufmunternde Wirkung, dass die ganze Meute, der er als Ältester vorstand, vor Freude heulte und mit ihm lief, ganz versessen darauf, ihre Pflicht zu tun.
    Â»Ã„mmchen«, rief die Hexe, »zieh einen sauberen Rock und eine frische Schürze an, gegen Abend werden wir Gesellschaft haben.«
    Doch der Nachmittag verging und es begann zu dämmern, und die Hunde kamen nicht zurück. Da holte die Hexe ihr teleskopisches Auge in einem zylindrischen Gehäuse hervor – ihre eigene Erfindung auf der Grundlage von Doktor Dillamonds Arbeit mit gegenüberstehenden Linsen –, und als sie hindurchguckte, wurde sie Zeuge eines entsetzlichen Gemetzels. Dorothy und der Löwe hielten sich