Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
schweren Gürtel mit Geld hervor, der ebenfalls in Ölzeug gehüllt war.
Er schlang ihn um die Taille und klemmte sich den langen, flachen Kasten unter den Arm. Eine leichte Brise zerzauste ihm das Haar, als er über den Strand ging und sich einem Boot näherte. Es gehörte Sanchez und war an einen Pfahl gebunden. Zwar bestand nicht die Gefahr, daß es von einer besonders hohen Flut fortgespült wurde, aber Sanchez galt als sehr vorsichtiger Mann. Ein guter Boß, dachte der Rothaarige. Es hat mir gefallen, für ihn zu arbeiten.
Er kramte im Bug herum, zog die Netze heraus und warf sie auf den Sand. Anschließend zog er die Holzkiste mit den Werkzeugen heran und entnahm ihr Hammer und Nägel, bevor er sie zu den Netzen stellte. Dann ging er zu dem Pfahl und nahm vier aus purem Gold bestehende österreichische Hundertkronen-Münzen aus dem Gürtel, der noch viele andere Währungen enthielt. Es war sicher nicht leicht, wäh rend des Krieges das Mittelmeer zu überqueren, und er mußte sich darauf verlassen, daß man überall Gold als Zahlungsmittel akzeptierte.
Mit kurzen, wuchtigen Hammerschlägen trieb er einen Nagel durch die Münzen und befestigte sie an dem Pfahl. Sanchez konnte ein neues Boot mit ihnen kaufen – ein besseres.
Der Rothaarige löste das Seil, zog das kleine Gefährt ins Wasser, sprang hinein und griff nach den Rudern. Als er die höheren Brandungswellen passiert hatte, setzte er das Segel und nahm Kurs auf Gibraltar. Zum letztenmal betrachtete er das winzige Fischerdorf an der südlichen Küste von Portugal, jenen Ort, den er seit einigen Jahren mit dem Begriff »Heimat« assoziierte. Es war ihm nicht gerade leichtgefallen, das Vertrauen der Bewohner zu gewinnen. Für sie war er noch immer ein Außenstehender, aber sie respektierten jemanden, der hart zu arbeiten verstand. Die Tätigkeit als Fischer hatte ihren Zweck erfüllt und seine körperliche Leistungsfähigkeit erhalten.
Der rothaarige Mann ballte unwillkürlich die Fäuste, als er an die bevorstehende Konfrontation dachte. Es gab keine andere Möglichkeit für ihn: Er mußte nach Rumänien. Nur er konnte etwas unternehmen.
Und er durfte keine Zeit verlieren.
Bei der Vorstellung, daß er vielleicht nicht rechtzeitig eintraf, regte sich dumpfes Entsetzen in ihm.
4. Kapitel
Die Feste
Mittwoch, 23. April • 04.35 Uhr
Wörmann erwachte im gleichen Augenblick wie alle anderen, starrte verwirrt in die Dunkelheit und stellte fest, daß er wie Espenlaub zitterte. Es war nicht etwa Grünstatts grauenerfülltes Heulen, das ihn geweckt hatte, denn im Turm befand er sich außer Hörweite. Irgend etwas anderes kroch in die Ruhe des Schlafs und verwandelte sie in ungreifbaren Schrecken.
Der Offizier zwinkerte benommen, schlug die Decke zurück und streifte sich hastig die Uniform über, bevor er die Treppe hinuntereilte. Die Soldaten verließen bereits ihre Quartiere, betraten den Hof und unterhielten sich dort mit leisen, bedrückt klingenden Stimmen oder lauschten den gespenstischen Schreien. Wörmann winkte drei Männer zu sich heran und schickte sie in den Keller. Er selbst blieb auf der obersten Stufe stehen und wartete ungeduldig. Kurz darauf kehrten zwei seiner Leute zurück. Ihre Gesichter waren bleich, und die Lippen bildeten nur noch dünne Striche.
»Dort unten liegt ein Toter!« brachte einer von ihnen hervor.
»Wer?« fragte Wörmann und schob sich an den Soldaten vorbei.
»Ich glaube, es ist Lutz, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Der Kopf fehlt …«
Im mittleren Korridor fand Wörmann eine uniformierte Leiche. Sie lag auf dem Bauch, halb unter einem Berg aus Steinsplittern begraben. Ohne Kopf. Doch der Schädel war keineswegs abgeschnitten oder abgehackt, wie vom Beil einer Guillotine. Es sah ganz danach aus, als sei er abgerissen worden: Fransige Adernstränge und geborstene Wirbelknochen ragten aus dem zerfetzten Halsstumpf. Ein Gefreiter – mehr ließ sich auf den ersten Blick nicht feststellen.
Ein zweiter einfacher Soldat saß in der Nähe und starrte mit weit aufgerissenen Augen das Loch in der Wand vor ihm an. Nach einigen Sekunden erbebte er am ganzen Leib und gab erneut ein schrilles Heulen von sich, bei dem sich Wörmanns Nackenhaare stellten.
»Was ist hier passiert?« fragte er, aber der Mann reagierte überhaupt nicht auf ihn. Wörmann packte ihn an der Schulter, schüttelte ihn einige Male, doch der Blick des Soldaten blieb starr. Er schien nicht einmal zu begreifen, daß der befehlshabende
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