Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
ihr entstand. Ja, wohin? fuhr es ihr durch den Sinn. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, nur eine va ge Vorstellung von schneebedeckten Berggipfeln und kaltem Wind.
»In die Karpaten, Papa.«
In den faltigen Mundwinkeln des Kranken zuckte es.
»Du hast geträumt, Schatz. Wir gehen nirgendwohin. Ich kann nicht reisen, nie wieder. Ein Traum, Magda. Nichts weiter. Kriech wieder ins Bett und schlaf.«
Magda runzelte die Stirn, als sie die hoffnungslose Resignation in der Stimme ihres Vaters hörte. Früher hätte er nicht so einfach aufgegeben. Die Krankheit raubte ihm nicht nur die Kraft, sondern auch seine Entschlossenheit. Jetzt ist kaum der geeignete Zeitpunkt, mit ihm zu streiten. Sie klopf te ihm auf den Handrücken und griff nach der Lampenschnur.
»Wahrscheinlich hast du recht. Nur ein Traum.« Sie hauchte ihrem Vater einen Kuß auf die Stirn, löschte das Licht und kehrte in den Flur zurück.
Als sie sich wieder in ihrem Zimmer befand, sah sie erneut auf den Koffer. Ja, ein Traum. Es gab keine andere Erklärung. Irgendwelche Reisen, ganz gleich, wohin, waren völlig ausgeschlossen.
Doch das sonderbare Gefühl wich nicht von ihr – die sichere Überzeugung, daß sie nach Norden ziehen würden, und zwar schon bald. Gewöhnliche Träume hinterließen keine so festen Eindrücke.
Die Gewißheit ließ sich nicht durch rationale Zweifel erschüttern. Magda seufzte, klappte den Koffer zu und schob ihn unters Bett. Die Kleidung darin, dick und warm … Um diese Jahreszeit war es in den Karpaten noch immer kalt.
6. Kapitel
Die Feste
Mittwoch, 23. April • 06.22 Uhr
Es dauerte einige Stunden, bevor Wörmann Zeit fand, mit Feldwebel Oster im improvisierten Offizierskasino Platz zu nehmen und eine Tasse Kaffee zu trinken.
»Was mich betrifft …«, begann Oster. »Ich glaube, beim Einsturz der Wand ist Lutz von einem der Steinblöcke getroffen worden – was ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf gekostet hat.«
Wörmann durchschaute das Gebaren des Feldwebels. Oster gab sich betont ruhig, aber tief in seinem Innern herrschte jene Art von Betroffenheit, die sie alle heimgesucht hatte.
»Eine gute Erklärung – solange uns die Ergebnisse einer genauen medizinischen Untersuchung fehlen. Bleibt die Frage, was die beiden Männer dort unten angestellt haben und warum sich Grünstatt so sehr verändert hat.«
»Schock.«
Wörmann schüttelte den Kopf. »Er hat an mehreren Gefechten teilgenommen und dabei Schlimmeres gesehen. Meiner Meinung nach gründet sich sein derzeitiger Zustand nicht auf einen Schock. Es steckt etwas anderes dahinter.«
Der Major hatte seine eigenen Schlüsse aus den Ereignissen der vergangenen Nacht gezogen. Der steinerne Quader mit dem beschädigten Kreuz aus Gold und Silber, der um Lutz’ Füße geschlungene Gürtel, der durch die Mauer reichende Schacht … Alles deutete daraufhin, daß Lutz in den Tunnel gekrochen war, weil er hoffte, noch mehr Gold und Silber zu entdecken. Statt dessen fand er nur eine kleine, leere Kammer. Eine Kerkerzelle? überlegte Wörmann. Ein Versteck? Aber warum? Eigentlich ergibt die Existenz jenes Hohlraums überhaupt keinen Sinn.
»Als Lutz und Grünstatt den einen Stein entfernten, beeinträchtigten sie dadurch die Stabilität der ganzen Mauer«, mutmaßte Oster. »Deshalb ist sie eingestürzt.«
»Das bezweifle ich«, entgegnete Wörmann und trank einen Schluck Kaffee. »Beim Kellerboden mag das der Fall sein, aber nicht bei der Wand.« Er erinnerte sich an den sonderbaren Anblick im Korridor. Es hatte so ausgesehen, als sei die Mauer von einer Explosion aufgerissen worden. Was vielleicht noch seltsamer ist als alles andere.
»Kommen Sie«, brummte er nach einer Weile und stellte die Tasse ab. »Es wartet Arbeit auf uns.« Wörmann kehrte in sein Quartier zurück, während Oster sich auf den Weg zur Funkstube machte, um der Garnison in Ploeşti Bericht zu erstatten. Der Major hatte ihn angewiesen, in Hinsicht auf den verstorbenen Lutz von einem Unfalltod zu sprechen.
Ein heller Himmel wölbte sich über der Schlucht, als Wörmann am rückwärtigen Fenster seines Quartiers stand und auf den immer noch dunklen Hof herabblickte. Das Kastell hatte sich verändert; es wirkte nun düsterer und bedrohlich. Am vergangenen Tag war es nur ein altes Gebäude aus Stein gewesen, doch jetzt … Die Schatten schienen in die Länge zu wachsen, sich zu verdichten und immer dunkler zu werden.
Der Major führte diesen Eindruck auf das schreckliche Ende des
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