Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
Offizier vor ihm stand.
Die anderen Männer kamen zögernd näher, um sich den Toten anzusehen. Wörmann überwand Abscheu und Ekel, trat an die kopflose Gestalt heran und durchsuchte die Taschen. Die Brieftasche enthielt einen Ausweis, der den Gefreiten als Hans Lutz identifizierte.
Der Major hatte schon viele Leichen gesehen – tapfere deutsche Soldaten, die auf dem Schlachtfeld gefallen waren –, doch diesmal war alles anders. Dieser Todesfall erschütterte ihn zutiefst: keine von Kugeln, Granaten oder Bomben verursachten Entstellungen, sondern wilde, zielgerichtete Grausamkeit. Mußte man mit solchen Konsequenzen rechnen, wenn die Kreuze in der Feste entweiht wurden?
Oster eilte mit einer Lampe herbei. Wörmann entzündete sie und näherte sich vorsichtig der großen Wandöffnung. Das Licht fiel auf glatte Wände. Sein Atem wehte in der Kälte als weiße Fahne an ihm vorbei. Es war kalt, kälter, als es eigentlich sein sollte. Die eisige Luft roch nach Moder, nach Zerfall und … und einer Fäulnis, die Wörmann abstieß und ihn fast dazu veranlaßt hätte, einige Schritte zurückzuweichen. Aber seine Männer beobachteten ihn; er durfte jetzt keine Schwäche zeigen.
Er folgte dem frostigen Windzug bis zum Ursprung, einem großen, gezackten Loch im Boden. Offenbar hatten die Steine an dieser Stelle nachgegeben, als die Wand einstürzte. Wörmann sah nichts weiter als tintenschwarze Finsternis. Er hielt die Lampe höher. Granitene Stufen führten nach unten, und in dem Geröll darauf bemerkte er etwas. Der blutige Kopf von Hans Lutz starrte ihn aus großen, trüben Augen an.
5. Kapitel
Bukarest, Rumänien
Mittwoch, 23. April • 04.55 Uhr
Magda erwachte wie aus einem Traum, als sie die Stimme ihres Vaters hörte.
»Magda!«
Sie hob den Kopf und sah sich im Spiegel über der Frisierkommode. Das Haar umschmiegte ihre Schultern. So bot sie einen ungewohnten Anblick. Meistens steckte sie ihr Haar so zusammen, daß nur einige eigenwillige Strähnen unter dem Kopftuch hervorragten. Tagsüber trug sie es nie offen.
Kurze Verwirrung folgte: Welchen Tag haben wir? Und wie spät ist es? Magda warf einen Blick auf die Uhr. Fünf vor fünf. Unmöglich! Vielleicht war die Uhr während der Nacht stehengeblieben. Sie griff danach, und ihre Verwunderung wuchs, als sie ein leises Ticken hörte. Seltsam …
Mit zwei Schritten ging sie zum Fenster neben der Kommode. Hinter dem dicken Vorhang zeigte sich ein dunkles, stilles Bukarest, das noch immer schlief.
Magda senkte den Kopf und stellte fest, daß nur ein Nachthemd aus blauem Flanell ihren Körper bedeckte. Deutlich zeichneten sich mittelgroße Brüste unter dem weichen, warmen Stoff ab. Rasch verschränkte sie die Arme darüber.
Magda galt als Sonderling in der Gemeinschaft. Das sanfte Gesicht mit den zarten Zügen, eine glatte, helle Haut und große braune Augen machten sie zu einer Schönheit, aber trotzdem war sie als Einunddreißigjährige noch immer unverheiratet. Magda, die Gelehrte, die hingebungsvolle Tochter, das Mädchen für alles. Magda, die Jungfer.
Erneut erklang die Stimme ihres Vaters.
»Was machst du da, Magda?«
Sie betrachtete den halb gefüllten Koffer auf dem Bett und antwortete aus einem Reflex heraus: »Ich packe uns warme Sachen ein, Papa!«
Ihr Vater schwieg kurz. »Komm zu mir. Ich möchte mit meinem Geschrei nicht das ganze Haus wecken.«
Magda wanderte durch den dunklen Flur der Vierzim merwohnung und blieb vor der Tür des Schlafzimmers stehen. Einer von Vaters Zigeunerfreunden hatte einen kleinen Pa trin -Kreis auf das Holz gemalt. Es bedeutete »Freund«.
Die Lampe auf dem Nachttisch neben dem Bett brannte, und daneben stand ein leerer, hochlehniger Rollstuhl. Der alte Mann lag wie eine Mumie unter der dicken Decke. Er hob eine gekrümmte Hand, die wie üblich in weichen Wollhandschuhen steckte, winkte und verzog das Gesicht. Selbst eine so geringe Bewegung verursachte ihm Schmerzen. Magda berührte ihn sanft, als sie auf der Bettkante Platz nahm, massierte die dünnen Finger und ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie mit ihrem Vater litt.
»Du packst?« fragte er und musterte sie aus tief in den Höhlen liegenden Augen. Die Brille lag auf dem Nachtschränkchen, und ohne sie war er praktisch blind. »Du hast mir gar nicht gesagt, daß du verreisen willst.«
»Wir beide«, erwiderte sie und lächelte.
»Und wohin soll’s gehen?«
Magda spürte, wie sich ihr Lächeln verflüchtigte, als neuerliche Unsicherheit in
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