Widersacher-Zyklus 02 - Die Gruft
Von Carl. Ach, und Jack hat angerufen. Er wollte wissen, ob sich bei uns jemand gemeldet hat.«
»Hat er etwas herausgefunden?«
Gia schüttelte den Kopf. Ihr tat die schon fast kindliche Erwartung auf dem Gesicht der alten Dame leid. »Er meldet sich, sobald er etwas weiß.«
»Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich weiß es einfach.«
»Du weißt gar nichts.« Gia legte Nellie den Arm um die Schultern. »Wahrscheinlich ist alles nur ein großes Missverständnis.«
»Ich hoffe es. Ich hoffe es wirklich.« Sie sah zu Gia auf. »Würdest du mir einen Gefallen tun, Liebes? Ruf bei der UN-Gesandtschaft an und entschuldige mich bitte. Ich werde morgen Abend nicht zu dem Empfang gehen.«
»Das solltest du aber.«
»Nein. Es wäre nicht angebracht.«
»Sei nicht albern. Grace würde wollen, dass du gehst. Und außerdem brauchst du etwas Abwechslung. Du hast seit einer Woche das Haus nicht verlassen.«
»Und was, wenn sie anruft?«
»Eunice ist doch hier und nimmt alle Nachrichten entgegen.«
»Aber auszugehen und sich zu amüsieren …«
»Hast du mir nicht gesagt, du würdest dich bei solchen Anlässen nie amüsieren?«
Nellie lächelte, das war wenigstens schon mal etwas. »Wahr … wie wahr. Vielleicht sollte ich tatsächlich gehen. Aber unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Du kommst mit.«
Das kam für Gia sehr überraschend. Sie hatte nun wirklich keine Lust, an einem Samstagabend zwischen einem Haufen UN-Diplomaten herumzustehen.
»Nein, wirklich, ich kann doch nicht…«
»Natürlich kannst du!«
»Aber Vicky…«
»Eunice ist hier.«
Gia suchte verzweifelt nach einer Ausrede. Irgendwie musste sie da doch herauskommen.
»Ich habe nichts anzuziehen.«
»Wir gehen los und kaufen dir etwas.«
»Kommt nicht infrage!«
Nellie zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und betupfte sich die Lippen. »Dann gehe ich auch nicht.«
Gia gab sich wirklich Mühe die alte Dame finster anzusehen, schaffte das aber nur ein paar Sekunden lang, dann konnte sie sich das Lächeln nicht mehr verkneifen.
»Na gut, du alte Erpresserin!«
»Ich verwahre mich gegen das ›alte‹.«
»Wenn ich mit dir ausgehe, dann finde ich schon etwas zum Anziehen in meinen Sachen.«
»Du kommst morgen Nachmittag mit mir mit und wir besorgen dir ein Kleid auf meine Kosten. Wenn du mich begleiten willst, musst du auch entsprechend gekleidet sein. Und damit ist die Sache erledigt. Wir gehen nach dem Mittagessen.«
Damit drehte sie sich um und hastete in die Bibliothek. Gia war hin und her gerissen zwischen Zuneigung und Verärgerung. Die alte englische Dame hatte sie wieder reingelegt.
3
Jack durchquerte den Haupteingang des Waldorf genau um sechs und stieg die Treppenstufen zur geschäftigen Lobby hoch. Es war ein hektischer Tag gewesen, aber er hatte es noch pünktlich geschafft.
Er hatte eine Analyse der Flüssigkeit aus der Flasche, die er in Graces Zimmer gefunden hatte, in Auftrag gegeben, und dann war er losgegangen und hatte jede zwielichtige Gestalt aufgesucht, die er kannte – und er kannte davon mehr, als ihm lieb war. Aber nirgendwo auf der Straße gab es irgendein Gerücht über eine entführte alte Dame. Nach ein paar Stunden war er völlig verschwitzt. Er war unter die Dusche gestiegen, hatte sich rasiert, angezogen und ein Taxi zur Park Avenue genommen.
Jack hatte vorher noch nie im Waldorf zu tun, daher wusste er auch nicht, was er sich unter dieser Pfauenbar vorstellen sollte, wo er mit Kolabati verabredet war. Um keinen Fehler zu machen, hatte er in einen leichten cremefarbenen Anzug und ein dazu passendes rosafarbenes Hemd und eine Paisley-Krawatte investiert – wenigstens hatte der Verkäufer behauptet, sie würden zusammenpassen. Zuerst dachte, das wäre vielleicht ein wenig übertrieben, aber dann überlegte er, dass man es im Waldorf wohl kaum übertreiben konnte. Nach dem kurzen Gespräch, dass er mit Kolabati gehabt hatte, ging er davon aus, dass sie perfekt gestylt sein würde.
Bei seinem Weg durch die Halle saugte Jack die Sinneseindrücke auf, die sich ihm darboten. Alle Rassen und Nationalitäten, alle Altersgruppen und Geschlechter tummelten sich hier. Links von ihm, hinter einem niedrigen Geländer und durch einen Torbogen zugänglich, saßen Menschen an kleinen Tischen vor ihren Getränken. Er ging hinüber und bemerkte ein kleines ovales Schild: »Pfauenbar«.
Er sah sich um. Wäre das Waldorf ein Bürgersteig, dann wäre die Pfauenbar ein Straßencafe, aber eines mit
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