Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
versucht, über das Seitengitter des Bettes zu steigen und herumzulaufen. Jedes Mal war er nach ein oder zwei Schritten gestürzt. Aber Carol widersprach ihm nicht. In der kurzen Zeit, die sie jetzt im Kreiskrankenhaus von Monroe arbeitete, hatte sie gelernt, sich nicht mit Patienten zu streiten, vor allem nicht mit betagten Patienten. Es war offensichtlich, dass Mr Dodd sich wirklich nicht daran erinnern konnte, dass er gestürzt war.
»Das ist egal. Ich habe nicht die Befugnis, die Fixierung zu entfernen.«
»Und wo sind meine Töchter?«, fragte er und hatte bereits das Thema gewechselt. »Dürfen die mich nicht besuchen?«
Es brach Carol das Herz. »Ich … ich werde für Sie nachsehen, in Ordnung?«
Sie drehte sich um und wandte sich zur Tür.
»Man sollte doch meinen, dass wenigstens eines von meinen Mädchen mich öfter als ein- oder zweimal besucht hätte, so lange, wie ich jetzt schon hier bin.«
»Ich bin sicher, sie werden bald kommen. Ich sehe morgen wieder herein.«
Carol schloss die Tür hinter sich und ließ sich gegen die Wand des Korridors sinken. Sie hatte kein Zuckerschlecken erwartet, als sie die Stelle beim psychologischen Dienst des Krankenhauses angenommen hatte, aber nichts hatte sie auf die tagtäglichen Tragödien vorbereitet, mit denen sie es zu tun hatte.
Sie fragte sich, ob sie wirklich für so etwas gemacht war. In den Kursen, die sie für ihren Sozialarbeiter-Abschluss absolvieren musste, wurde einem nie beigebracht, wie man die Distanz zu einem Klienten aufrecht erhielt. Entweder lernte sie jetzt, wie das geht, bis es zu einer automatischen Reaktion wurde, oder sie würde eines Tages in der Zwangsjacke enden.
Sie würde es lernen. Nach einem solchen Job musste man lange suchen. Die Bezahlung war anständig und sie war krankenversichert. Sie und Jim brauchten nicht viel zum Leben – schließlich hatte sie das Haus ihrer Eltern geerbt, und das war komplett abbezahlt und ohne Hypotheken –, aber bis seine Schriftstellerei Geld einbrachte, musste sie für die Butter auf dem Brot sorgen. Manchmal jedoch …
Eine vorbeikommende Krankenschwester warf ihr einen fragenden Blick zu. Carol setzte ein Lächeln auf und riss sich zusammen.
Ich bin nur müde, das ist alles. Sie hatte die letzten Nächte nicht gut geschlafen. Ihr Schlaf war unruhig und sie erinnerte sich vage an Träume. Albträume.
Ich schaffe das schon.
Sie steuerte auf das winzige Büro des sozialen Dienstes im Erdgeschoss zu.
Als Carol den Raum betrat, sah Kay Allen von dem Durcheinander aus Krankenakten auf ihrem Schreibtisch auf. Kay war die Leiterin der Abteilung, eine dralle Brünette, die jedes Mal hektisch wurde, wenn es auf ihre Zigarettenpause zuging. Sie hatte schon fast zwanzig Jahre Dienst im städtischen Krankenhaus von Monroe auf dem Buckel.
»Was können wir wegen Mr Dodd unternehmen?«, fragte Carol.
»Der, den sie da im zweiten Stock abgeladen haben?«
Carol verzog angeekelt das Gesicht. »Muss das sein, Karen?«
»Aber darum geht es doch, oder? Seine Familie hat ihn auf dem Fußboden in seiner Wohnung gefunden, einen Krankenwagen gerufen, ihn bei uns abgeladen, und ist dann wieder nach Hause gefahren.«
»Ich weiß, aber das muss man doch auch freundlicher ausdrücken können. Er ist ein kranker, alter Mann.«
»Er ist aber nicht mehr so krank, wie er gewesen ist.«
Das stimmte. Doktor Betz hatte seinen Krankheitsverlauf soweit stabilisiert, wie das in seinem Zustand möglich war, und jetzt war er ein Problem für die Sozialarbeiter. Noch so ein Grenzfall: Nicht krank genug für das Krankenhaus, aber nicht gut genug beieinander, um allein zurecht zu kommen. Er konnte also nicht zurück in seine eigene Wohnung, aber seine Töchter wollten ihn nicht bei sich unterbringen. Das Krankenhaus konnte ihn nicht einfach so auf die Straße setzen, also mussten sie ihn dabehalten, bis sie einen Platz in einem Pflegeheim gefunden hatten.
»Nennen wir die Dinge ruhig beim Namen, Carol: Mr Dodd ist bei uns abgeladen worden.«
Carol konnte das nicht bestreiten, aber sie wollte es auch nicht zugeben. Wenigstens wollte sie es nicht laut aussprechen. Das käme ihr vor wie der erste Schritt auf dem Weg, so zu werden wie Kay. Hart und zynisch. Ihr war aber auch klar, dass Kays harte Schale genau das war – eine Schale, ein schützender Chitinpanzer, das unvermeidliche Ergebnis, wenn man Jahr für Jahr mit einer endlosen Zahl von Mr Dodds zu tun hatte.
»Ich werde mich nie daran gewöhnen, wie Töchter ihre
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