Wie die Iren die Zivilisation retteten
Bedürfnis heraus haßte ich mich selbst dafür, nicht zu begehren. Ich verfolgte alles und alle, die lie-benswert sein konnten, verliebt in die Liebe. Ich haßte die Sicherheit –
und jeden gefahrlosen Weg. Denn in mir war ein Hunger. «
Das ist klare, ergreifende, rücksichtslose Prosa. Doch auch wenn die Worte von Augustinus’ Bekenntnissen sich immer noch wunderbar
lesen, bewirken sie nicht mehr solch erfrischenden Schock wie im
Jahre 401, als Augustinus seine Memoiren veröffentlichte – wahr-
scheinlich demselben Jahr, in dem Patricius entführt wurde. Das liegt daran, daß eine Empfindsamkeit wie die von Augustinus mittlerweile nichts Besonderes mehr darstellt; wir können das Erdbeben, das der spätantike Leser der Bekenntnisse fühlte, nicht mehr nachempfinden, denn Augustinus ist der erste Mensch, der »Ich« sagt – und damit
genau das meint, was wir heute darunter verstehen. Deshalb sind
seine Bekenntnisse die erste authentische Biographie der Mensch-
heitsgeschichte. Das hat umwälzende und selbst heute noch schwer
zu fassende Implikationen. Am besten liest man natürlich die Be-
kenntnisse selbst und läßt sich von ihnen einfangen. Doch um die
Bedeutung von Augustinus’ Leistung wirklich ermessen zu können,
muß man jene »Autobiographien« lesen, die vor ihm geschrieben
wurden. Schlagen Sie irgendeine Sprüchesammlung auf – am besten
eine, die wie die von Bartlett chronologisch geordnet ist –, und suchen Sie nach Ichs. Wie selten und schwach in seiner Aussage – dieses Wort in der alten Literatur ist, wird Sie verwundern. Sicher sprechen Homers Figuren gelegentlich in der Ich-Form. Sokrates spricht sogar von seinem daimon, seiner Seele. Doch persönliche Enthüllungen, wie wir sie heute gewöhnt sind, fehlten vollkommen. Selbst Gedichte wirken nach unseren Maßstäben eher objektiv, und die Ausnahmen fallen
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deutlich heraus, wie zum Beispiel ein Fragment (»Hinabgetaucht ist der Mond ... «)*, das Sappho zugeordnet wird, und die König David zugeschriebenen Psalmen.
Wenn wir die ersten sogenannten Autobiographien der klassischen
Zeit betrachten, irritiert uns ihr unpersönlicher Ton. Mark Aurel, nach Gibbons Maßstäben der begnadetste Herrscher und ein großer Philosoph der römischen Antike, spricht in Epigrammen zu uns’ wie vor
ihm schon Konfuzius und Ekklesiastes. »Mein Sein, was immer es
wirklich ist, besteht aus ein wenig Fleisch, ein bißchen Atem und dem Teil, der regiert« – womit er seinen Verstand meint. Intimer wird Mark Aurel nicht. Oder wie wär’s damit als persönliche Enthüllung:
»Alles, was Harmonie für dich bedeutet, mein Universum, ist auch
mit mir in Harmonie. Nichts, was für dich zur rechten Zeit geschieht, ist zu früh oder zu spät für mich.« Dank ihrer Gewichtigkeit sind die Gedanken des großen Kaisers nie persönlicher als ein chinesischer Glückskeks.
Und dann kommt Augustinus und erzählt uns alles – von seiner
Eifersucht, als er ein Kind war, den Diebstählen, die er als junge beging, der stürmischen Beziehung zu seiner herrischen Mutter (der unvermeidlichen Monica), von seinen Schürzenjäger-Jahren, seinen
Zusammenbrüchen, seiner beschämenden Liebe zu einer namenlosen
Bauerntochter, die er schließlich verstößt. Sein Abscheu vor sich selbst ist so modern wie der einer Figur bei Camus oder Beckett – und
ebenso konkret: »Ich trug in mir eine zerschnittene und blutende
Seele, und wie ich sie loswerden sollte, wußte ich nicht. Ich suchte jede Art von Unterhaltung – das Land, Sport, Alberei, den Frieden eines Gartens, Freunde und gute Gesellschaft, Sex, Lesen. Meine Seele taumelte im Leeren – und fiel auf mich zurück. Denn wie sollte mein Herz meinem Herzen entkommen? Wohin konnte ich mir selbst
entfliehen?«
* Hinabgetaucht ist der Mond und mit ihm die Plejaden;
Mitte der Nächte,
vergeht die Stunde;
doch ich lieg allein danieder.
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Niemand hatte je so gesprochen. Wenn wir die Weltliteratur von
ihrem Beginn bis zum Auftritt des Augustinus durchstöbern, erken-
nen wir, daß das menschliche Bewußtsein mit Augustinus einen
gewaltigen Schritt vorwärts machte – und selbstbewußt wurde. Hier ist zum erstenmal ein Mann, der sich nicht als Mensch im allgemei-nen, sondern als Individuum betrachtet – als Augustinus. In diesem Moment wurde wahre Autobiographie möglich, ebenso wie ihre
Verwandte, die subjektiv und autobiographisch erzählende Literatur.
Erzählende Literatur hatte es in Form
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