Wie die Iren die Zivilisation retteten
gefürchteten Plünderungszügen der irischen Kelten an seiner zerklüfteten Westküste.
Eines der schrecklichsten Merkmale dieser Periode ist die im Groß-
handelsstil betriebene Versklavung der Freien. Viele Gutsverwalter von Großgrundbesitzern fungierten als redemptores , als Retter römischer Bürger, die Barbaren in die Hände gefallen waren. Ziel war in der Regel nicht die Befreiung des römischen Gefangenen, sondern
seine neuerliche Versklavung als Bediensteter des römischen Gutsbesitzers. Die gezahlte Lösesumme war, verglichen mit dem Wert seines lebenslangen Dienstes, gering. In manchen Fällen gelang diese List noch einfacher: Ein Bauer fand bei einem Überfall für sich und seine Familie Unterschlupf auf einem großen Landgut und mußte, wenn
die barbarischen Horden vorbeigezogen waren, feststellen, daß weder er noch seine Leute wieder gehen durften. Auch die Barbaren ver-sklavten jeden, der ihnen in die Hände fiel. Im Sklavengeschäft fürchtete man die Iren am meisten. Sie waren hervorragende Seemänner,
die ihre Schiffe – Rümpfe aus Holzspanten, mit Häuten bespannt –
mit unvergleichlicher Geschicklichkeit steuerten. Kurz vor dem Mor-gengrauen lenkte etwa eine kleine Kriegertruppe ihre unauffälligen ovalen Coracles in eine kleine Bucht, näherte sich auf leisen Sohlen einem alleinstehenden Bauernhaus, griff sich einige schlafende Kinder und war bereits auf dem Heimweg nach Irland, bevor irgend jemand
merkte, was geschehen war.
Die Iren bewegten sich aber auch in größeren Kriegstruppen. Eines Tages im Jahre 401, oder wenig später, fegte eine riesige Flotte dieser Schiffe an der westlichen Küste Britanniens entlang, wahrscheinlich in 37
die Mündung des Severn hinein, nahm (nach Augenzeugenberichten)
»viele Tausende« von jungen Gefangenen und brachte sie nach Irland auf den Sklavenmarkt. Wir besitzen das Zeugnis eines dieser Gefangenen, eines sechzehnjährigen Jungen, der sich Patricius nannte. Er berichtet, sein Vater Calpunius sei (Gott helfe ihm) curialis und sein Großvater Potitus katholischer Priester – er war also ein Bursche aus der Mittelklasse, ein romanisierter Brite, der einer klassischen Ausbildung und Laufbahn entgegensah. Es überrascht nicht, daß er kein
Interesse daran hatte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten: »Ich verkaufte meinen Adelsrang, und ich erröte weder vor Scham, noch
tut es mir leid.« Wie auch immer die Pläne dieses forschen jungen Mannes aussahen – die Iren haben sie mit ihrem schrecklichen Überfall durchkreuzt. Er findet sich, »gezüchtigt und von täglichem Hunger und Nacktheit erniedrigt«, als Hirtensklave im irischen Landstrich Antrim wieder, als Eigentum eines örtlichen »Häuptlings« namens
Miliucc. Was aus Patricius wurde, wird Gegenstand eines späteren
Kapitels sein – wenn wir die zivilisierte Welt ein für allemal hinter uns gelassen haben und das unheilige Irland bereisen. Doch bevor wir die späte klassische Welt verlassen und uns auf den Weg zu den
übelsten der üblen Barbaren machen, sollten wir uns eine letzte Frage stellen: Was ging verloren, als das Römische Reich zusammenbrach?
Das Leben des Ausonius kann uns den Grund des Untergangs zeigen,
aber es liefert uns keinen Grund zu Tränen. Die klassische Zivilisation
– die Welt, die fünfhundert Jahre vor Christi Geburt im Athen des Perikles geboren wurde und nun, fünfhundert Jahre nach Christus, im Jahrhundert der Barbarenangriffe starb – hat einen besseren Abgesang verdient, als Ausonius ihn zu bieten hat. Was also ging verloren, als niemand mehr Muße hatte, das Wesentliche der klassischen Tradition weiterzugeben; als die Barbaren Bibliotheken niederbrannten und
Bücher sich in Staub verwandelten; als die letzten Steine in ländlichen Häusern verbaut wurden?
Die Antwort finden wir im Leben des Augustinus von Hippo, des
beinahe letzten großen Mannes der klassischen Antike – und des
beinahe ersten des Mittelalters.
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Nur dreißig Jahre bevor Patricius in Ketten nach Irland gebracht
wurde, kam ein anderer junger Mann ähnlicher Herkunft – ein roma-
nisierter Afrikaner, dessen Vater ein kleiner Beamter war – aus freien Stücken nicht in irgendein Hinterland, sondern in die brodelnde
Hauptstadt des römischen Afrika. »Ich kam nach Karthago«, erinnert Augustinus sich später, »wo der Klang eines Hexenkessels unheiliger Liebe in meine Ohren drang. Bis dahin liebte ich niemanden, doch ich wollte lieben, und aus einem tiefen
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