Wie die Iren die Zivilisation retteten
ein
drittes Bestreben für den gebildeten Mann. Ein Bestreben, in dem nur begnadete Sucher erfolgreich sein konnten: die Philosophie. Hinter den literarischen Künsten liegt irgendwo im Nebel der Zugang zu
Wahrheit und Weisheit. In Augustinus’ Tagen war dieser Zugang von den Werken eines großen Lehrers beleuchtet: Platon, der griechische Philosoph, der Schüler von Sokrates, geboren zu einer Zeit und an einem Ort, die alle gebildeten Männer als das Goldene Zeitalter betrachteten – Athen im fünften Jahrhundert vor Christus.
Waren die freien Künste nur einigen wenigen zugänglich, so war
die Philosophie geradezu elitär. Viele hochgebildete Männer lehnten die Philosophie sogar ab, da es ihnen unmöglich schien, Wahrheit
oder Weisheit je zu erlangen. Cicero war ein solcher Agnostiker:
Nachdem er lange nach der philosophischen Wahrheit gesucht hatte, schloß er sich den Skeptikern an, die an die Ungewißheit jedes ultima-tiven Wissens glaubten (wenngleich er sich in Moralangelegenheiten an die Stoiker hielt, die davon überzeugt waren, daß Tugend zur
Glückseligkeit führe). Ciceros ausgewogener Agnostizismus über-
rascht inzwischen niemanden mehr; man bedenke nur, welch eine
bequeme Philosophie sich daraus für seine heutigen Nachfahren
ergibt: für Publizisten, Werbefachleute und all jene, die uns dazu bringen wollen, etwas zu tun, woran wir sonst nicht einmal gedacht hätten. Als Philosoph war Cicero ein großer Verpackungskünstler
seiner Zeit, wenig originell im Denken, aber mit echter Ausstrahlung, eine Art Will Durant, der alle Denkströmungen und -schulen so
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geschickt in Worte kleiden konnte, daß alle Welt genug davon
verstand, um auf einer Cocktailparty darüber zu reden.
Doch Augustinus wollte die Wahrheit, keinen billigen Erfolg: Eine so übervolle Seele kann nach nichts anderem suchen. Bald schon ließ er den schlichten, emotionalen Katholizismus seiner Mutter hinter sich und wandte sich etwas Exklusiverem zu, der Religion von Mani, einem persischen Synkretisten, der dies und das von hier und dort aufnahm und daraus etwas zusammenbraute, das uns heutzutage wie
ein kalifornischer Kult vorkäme: ein bißchen christlicher Symbolismus, eine große Dosis zoroastrischer Dualismus und einige sanfte
Feinheiten des Buddhismus. Genannt wurde das Ganze Manichäis-
mus. Eine Weile zappelte Augustinus am Haken, denn diese Religion erteilte ihm Absolution für seine brennenden Gelüste: In Manis System war Gott passiv und unfähig, die ekelhaften fleischlichen Sünden zu bekämpfen. Es war eine Religion, die wie gemacht schien für einen wachen jungen Provinzler, der jeden dunklen Winkel der brodelnden Stadt erkunden mußte und jeden düsteren Genuß erleben
wollte, den sie zu bieten hatte – und der sich gleichzeitig über die Masse erhaben fühlte. Doch sie konnte nicht mit Augustinus’ furchtlos forschendem Geist mithalten. Wie die Religion der Zeugen Jehovas oder die der Mormonen bestand sie aus lauter Behauptungen,
ergab jedoch kein intellektuelles System, das einen großen Geist
befriedigt hätte.
Wir wissen nicht, was Augustinus las, aber wir wissen, daß er Bü-
cher verehrte. Nach seinen eigenen Angaben hat er nie richtig Griechisch gelernt. Platon jedoch konnte man in Übersetzung lesen –
»verpackt« von Kommentatoren, die sehr viel Profunderes zu bieten hatten als Cicero. Die Luft, die Augustinus atmete, war erfüllt von Platon. Jeder ernsthafte junge Mann mußte sich früher oder später an ihm erproben.
Enttäuscht vom Manichäismus, schart Augustinus während seiner
ersten bedeutenden Tätigkeit als Rhetorikprofessor in Mailand eine neue – und natürlich exklusive – Gruppe um sich: eine zeitweilig
»klösterliche« Gemeinde gleichgesinnter junger Männer, die mit Hilfe von Platon und seinen lateinischen Kommentatoren die Wahrheit
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ergründen wollen. Ihre ernsthaften Absichten werden schließlich
vereitelt, als ihre künftigen Ehefrauen Einspruch gegen das trübsinnige Herumhocken erheben. Bald erscheint auch Augustinus’ Mutter
auf dem Plan und entfesselt wie immer gefühlsmäßige Wirbelstürme
– eine Art afrikanischer Eine-Frau-Sturm-und-Drang. Das – wenn
auch nur kurze – Bestehen einer solchen Gemeinschaft gibt uns eine Vorstellung davon, wie ernst und persönlich die philosophische
Wahrheitssuche in der antiken Welt genommen wurde; die Gruppe
kam einem Ashram viel näher als einem modernen Philosophiesemi-
nar. Und sie bereitet den
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