Wie die Iren die Zivilisation retteten
Tochter
von Menelaos und Helena, oder von dem Lupercalia und den Anhän-
gern des Priapus?« Aldhelm – man hört beinahe, wie er verächtlich schnaubt – hatte seine Lektion gelernt und fing jedesmal an zu
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schwitzen, wenn ihm eine der pikanteren klassischen Geschichten
durch den mönchischen Sinn ging. Die Iren waren keineswegs unkri-
tisch. Sie sahen nur keinen Sinndarin, sich einer selbstauferlegten Zensur zu unterwerfen. Sie hätten mit Terenz sagen können: »Homo sum; humani nil a me alienum puto« (»Ich bin ein Mensch, deshalb ist mir nichts Menschliches fremd«). Für John T. McNeill, den ausgewo-gensten aller Kirchenhistoriker, waren es gerade »die Breite und der Reichtum des von den klassischen ... Autoren abgeleiteten irischen Klosterunterrichts«, die Irland zu seiner »einzigartigen Rolle in der Geschichte der westlichen Kultur« verhelfen sollten.
Die irischen Mönche fanden zwar die alten Geschichten aus Grie-
chenland und Rom frisch und fesselnd, aber gelegentlich warfen sie auch einen verstohlenen Blick auf ihre eigene Literatur, die wir heute nur kennen, weil sie sie aufgeschrieben haben – nach Kindheitserinne-rungen oder nach den Erzählungen umherziehender Barden. Im Book of Leinster, das eine blumige Version des Tain enthält, schließt das Epos mit einemklösterlichen »Amen«. Auf irisch fügte der Schreiber die Formel der Barden einer früheren oralen Kultur hinzu: »Gesegnet sei jeder, der den Tain treu in dieser Form bewahrt und ihn nicht verändert.« Unmittelbar danach notierte derselbe Schreiber auf Latein die Worte: »Ich, der ich diese Geschichte kopiert habe, oder vielmehr diese Phantasie, glaube nicht an die Einzelheiten dieser Geschichte oder Phantasie. Einige Dinge darin sind teuflische Lügen, und andere sind poetische Hirngespinste; einiges scheint möglich und anderes nicht ; einiges dient der Belustigung von Idioten.«
Er kopierte also den Tain, obwohl er seinen Inhalt ablehnte. Diesen Schreibern, wie griesgrämig ihre Bemerkungen auch seinmögen, ist es zu verdanken, daß wir eine große Menge an früheririscher Literatur besitzen – die früheste volkssprachliche Literatur Europas, die überliefert wurde, weil man sie ernstgenugnahm, um sie niederzu-schreiben. Auch wenn dieseersten irischen Literaten vor allem an der Welt interessiert waren , die ihnen durch die drei heiligen Sprachen Grie- chisch, Latein und – in rudimentärer Form – Hebräisch eröffnet wurde, liebten sie ihre eigene Sprache zu sehr, als daß sie sie nicht mehr benützt hätten. Während überall sonst in Europa ein gebildeter 137
Mann im Leben nicht die Volkssprache gesprochen hätte, hielten die Iren Sprache allgemein für ein Spiel – und hatten zu großen Spaß
damit, als daß sie einen Teil davon aufgegeben hätten. Sie waren
immer noch zu kindlich und verspielt, um im Snobismus irgendeinen Wert zu sehen.
Hier und da findet man in den überlieferten Manuskripten – am
Ende der komplizierten lateinischen Übersetzung eines Paulusbriefes, am Rand eines unverständlichen griechischen Kommentars – das
gelangweilte Gekritzel der irischen Schreiber, die sich damit wachhiel-ten, daß sie ein oder zwei Verse eines geliebten irischen Gedichtes niederschrieben. So hinterließen sie uns zu unserer Freude eine ganze Werke, die uns sonst unbekannt geblieben wäre.
Manchmal komponierte der Schreiber sein eigenes Gedicht, und
ziemlich oft wird es ein Student gewesen sein – nicht immer einer in Anbetracht der Themen seiner Tagträume, der eine klösterliche Berufung anstrebte. »Der Sohn des Königs von Moy«, notierte ein Schreiber.
Traf zu Mittsommer im grünen Wald ein Mädchen,
Sie gab ihm einen Schoß voller Brombeeren,
Sie gab ihm einen Arm voller Erdbeeren.
Ein anderer ist noch direkter:
Er ist ein Herz,
Eine Eichel von dem Eichenbaum:
Er ist jung.
Küß ihn!
Und ein dritter läuft große Gefahr, seine Studien nicht abzuschließen: Alle wollen wissen,
Wer mit der blonden Aideen schlafen wird.
Alles, was Aideen zugibt, ist,
Daß sie nicht allein schlafen wird.
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Ein Schreiber beschwert sich über die Knochenarbeit des Kopierens, ein anderer über einen schlampigen Schreiberkollegen: »Es ist einfach, hierin Gabriels Arbeit zu erkennen«, schreibt er in wunderschöner Handschrift an den Rand einer unleserlichen Seite. Ein dritter knirscht wegen der Schwierigkeiten eines gequälten griechischen Textes mit den Zähnen: »Es ist vorbei – und darauf sieben
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