Wie die Iren die Zivilisation retteten
Flüche!«
Doch die meiste Zeit taten sie ihre Arbeit gern und waren von den Geschichten, die sie kopierten, gefesselt. Unter der Schilderung von Hektors Tod auf der trojanischen Ebene hat ein Schreiber, von den Worten, die er kopierte, völlig ergriffen, in tiefstem Ernst geschrieben:
»Ich bin tief betrübt über den oben erwähnten Tod.« Ein weiterer
vergleicht die Dauerhaftigkeit seiner geliebten Kunst mit seiner eigenen kurzen Lebensspanne und schließt: »Es ist traurig, mein kleines teilbemaltes weißes Buch, denn es wird der Tag kommen, da jemand
über deiner Seite sagen wird: ›Die Hand, die alles geschrieben hat, ist nicht mehr‹.«
Das vielleicht klarste Bild, das wir über das Leben eines Schreibers haben, findet sich in einem vierstrophigen Gedicht , in ein Manuskript aus dem neunten Jahrhundert gesteckt, das ansonsten so gelehrtes
Material wie lateinische Kommentare zu Vergil und eine Liste griechischer Paradigmen enthält:
Ich und Pangur Ban, mein Kater,
Haben ähnliche Aufgaben:
Er jagt begeistert Mäuse,
Ich jage die ganze Nacht Wörter. Es ist schön mit anzusehen,
Wie wir bei unseren Aufgaben glücklich sind,
Wenn wir zu Hause sitzen und
Unterhaltungen für unseren Geist finden.
Er richtet seinen Blick auf die Wand,
ganz und grimmig, scharf und schlau;
Ich versuche mich gegen die Wand des Wissens
mit meinem bißchen Weisheit.
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Und so tun wir in Frieden unser Werk,
Mein Kater Pangur Ban und ich;
In unserer Kunst finden wir unseren Segen,
Ich habe meinen und er hat seinen.
Sie waren glückliche Menschen, vielleicht manchmal etwas bissig,
aber normalerweise ganz zufrieden mit den Aufgaben, die ihnen das Schicksal bestimmt hatte. Sie sahen sich nicht als Arbeitsbienen. Sie stiegen vielmehr tief in den Text ein, den sie bearbeiteten, versuchten ihn auf ihre Art zu verstehen und, wenn möglich, zu verbessern. In dieser verwirrend neuen Kultur galt ein Buch nicht einfach als ein isoliertes Dokument auf einem staubigen Regal; ein Buch sprach zum anderen, der Autor zum Schreiber, der Schreiber zum Leser, von einer Generation zur nächsten. Diese Bücher waren, wie wir in unserem
heutigen Jargon sagen würden, offen, interkulturell und intertextuell
– wunderbare literarische Spielwiesen, in die so mancher Schreiber ein bißchen aus jeder ihm bekannten Ära, Sprache und Stilrichtung einbrachte. So etwas sollte es nicht mehr geben, bis James Joyce seinen Ulysses schrieb.
Im Zentrum dieses neuen irischen Universums scheinen »die Bibel-
kerzen« auf die »weiße Bibelseite« wie im »Eremiten-Lied«. Ähnlich den Juden vor ihnen bewahrten die Iren die Literatur als ihren zentralen religiösen Akt. In einem Land, in dem die Literatur noch kurz zuvor unbekannt gewesen war, in einer Welt, in der die alten gebildeten Zivilisationen schnell in den andauernden barbarischen Wellen versanken, wirkte die weiße Bibelseite, die in allen kleinen Oratorien Irlands schimmerte, wie ein Versprechen: Die einsame Dunkelheit
war in Licht verwandelt worden, und die einsame Tugend Mut, all
die Jahrhunderte hindurch bewahrt, war in Hoffnung verwandelt
worden.
Die Iren nahmen die Schriftkunde auf ihre eigene Art auf, als etwas, womit man spielen konnte. Das einzige Alphabet, das sie je gekannt hatten, war das prähistorische Ogham, eine umständliche Ansamm-lung von Strichen, die sich auf das römische Alphabet gründete und die sie unermüdlich in die Ecken aufrecht stehender Steine ritzten, um 140
Gedenksteine daraus zu machen. Diese runenartigen Inschriften, die in den frühen Jahren der christlichen Zeit weiterhin auftauchten, gaben keinen Hinweis auf das, was bald geschehen würde; binnen
einer Generation hatten die Iren Latein und Griechisch gelernt und, so gut es ging, Hebräisch. Wie wir gesehen haben, hinterließen sie irische Grammatiken und schrieben ihre gesamte mündliche Literatur nieder.
All das taten sie äußerst konsequent, viel zu konsequent, als sie erst einmal auf den Dreh gekommen waren. Sie begannen, Sprachen zu
erfinden. Die Mitglieder einer weitverstreuten Geheimgesellschaft, die sichim späten fünften Jahrhundert gründete (kaum eine Generation nachdem die Iren lesen gelernt hatten), schrieben einander in unerhört gelehrten, nie zuvor verwendeten Formen des Lateinischen, Hisperica Famina genannt – nicht unähnlich der Traumsprache in Finnegans Wake oder auch den Sprachen, die J. R. R. Tolkien eines Tages für seine Hobbits und Elfen erschaffen
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