Wie die Libelle in der Wasserwaage
verdrängte ich tunlichst den Gedanken daran, dass ich es mit einer Leiche zu tun hatte. Ich redete mir ein, er sei nur einer der Bewusstlosen, mit denen ich mich schon auskannte. Alles andere wäre zu schaurig gewesen.
Dann rief ich Dr. Stehnken an, dessen Handynummer für den Notfall jedem Clubmitarbeiter bekannt war. Obgleich es mitten in der Nacht war, erschien er schon nach zwanzig Minuten.
Er untersuchte unser Opfer und zählte eins und eins zusammen. Obwohl wir ihm versicherten, dass der Mann zu später Stunde an der Bar einfach zusammengebrochen sei, durchschaute er uns. Es war für ihn als Arzt natürlich klar, dass der Dahingeblichene nicht erst seit einer halben Stunde, sondern bereits mindestens eine Stunde länger verschieden sein musste. Er wollte einfach nicht glauben, dass unsere Handlungsverzögerung jugendlicher Panik geschuldet war. Und würde es nicht die normale Reaktion des unschuldigen Zeugen eines plötzlichen Todesfalles sein, sofort den Notarzt zu rufen?
Unsere Beteuerungen blieben fruchtlos, so sehr ich mich auch ins Zeug legte. Er wusste nicht, was wir getan hatten, aber dass es bei dem Tod des Mannes nicht ganz koscher zugegangen war, das war ihm offensichtlich klar. Als er knallhart sagte, er werde einen Totenschein ausstellen und als Todesursache Herzversagen angeben, im Gegenzug sollten wir ihm unsererseits jedoch zehntausend Euro überreichen, da blieb mir die Spucke weg. Zehntausend Euro? Das waren fünftausend für jeden von uns! Das entsprach in etwa allem, was wir mit unserem nächtlichen Nebenjob verdient hatten. Doch hatten wir eine andere Wahl?
*
Nach diesem Zwischenfall setzte eisig-frostige Ernüchterung ein. Die ganze Plagerei war umsonst gewesen. Wir waren nicht skrupellos genug, um unsere Tätigkeit einfach unbeirrt fortzusetzen. Die kalte Dusche wirkte sich auch auf unsere Zweisamkeit aus. Wenn ich Mario sah, hatte ich sofort den Toten in der Bar vor Augen. Das turnt noch mehr ab, als beim Sex an die eigene Mutter zu denken.
Es war aus. Ende April wurde Mario von seinem Reiseveranstalter abberufen, während der Sommermonate animierte er in einem Ferienclub auf Sardinien. Ich war nicht böse drum.
Lustlos setzte ich meinen Job fort. Einige Zeit später lief mein Jahresvertrag turnusmäßig aus. Ein aalglatter Vertreter des Veranstalters erschien rechtzeitig vor Ablauf der Kündigungsfrist des sich ansonsten automatisch verlängernden Beschäftigungsverhältnisses, um mir mitzuteilen, dass eine Vertragsverlängerung nicht vorgesehen sei.
Meine Lustlosigkeit hatte sich wohl herumgesprochen. Einige Gäste hatten sich in letzter Zeit über die müde und unmotivierte Animation beklagt. Menschen sind so egoistisch, jeder denkt nur an sich. Ganz nach der Maxime, wenn jeder an sich denkt, ist ja an alle gedacht. Die Pauschalreisenden wollten pauschalen Spaß. Darüber, dass auch ich ein fühlender Mensch war, machte sich keiner Gedanken. Mir ging es nicht gut, ich war schließlich von den Geschehnissen gebeutelt. Darunter litt meine Arbeit. Hatte irgendwer Verständnis dafür? Nein. Die Leute interessierten sich ja noch nicht einmal dafür. Ich war nur der Animationsroboter, und der hatte zu funktionieren.
Aber ich hatte eigentlich auch nicht verlängern wollen. Ich hatte es satt. Sollten die doch ihren billigen Animationsmist ohne mich weiterführen!
*
Da stand ich nun. Einundzwanzig Jahre alt, mit nichts als dem Abitur in der Tasche und einer Leiche im Keller. Aber irgendein kluger Mensch hat einmal gesagt: Blicke nie zurück, es sei denn, du willst dorthin gehen . Ich weiß nicht, wer es gewesen ist, nur meine Großmutter war es ganz gewiss nicht. Ihre Sprüche entbehrten solch philosophischen Tiefgangs.
Jedenfalls wollte ich mit absoluter Sicherheit nicht zurückgehen, also musste ich mir etwas Neues einfallen lassen. Ich hatte zwar von meinem redlich verdienten Animationsgeld etwas zurückgelegt, aber ewig würde das nicht reichen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Erleuchtung darüber, was ich mit dem Rest meines Lebens anstellen sollte, über mich herabregnen würde, brauchte ich eine Interimslösung.
Also bewarb ich mich für eine Au-Pair-Stelle und nahm vorübergehend zähneknirschend bei meinen Eltern Zuflucht. Denn eine eigene Wohnung in Deutschland hatte ich natürlich nicht, gnädigerweise gab es aber noch mein altes Zimmer im Vorortssiedlungshäuschen meiner Eltern. Die Zeit bei ihnen war nicht leicht. Keine erwachsene Frau hält diese Gängelei auf Dauer
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