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Wie die Libelle in der Wasserwaage

Wie die Libelle in der Wasserwaage

Titel: Wie die Libelle in der Wasserwaage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almut Irmscher
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aus. Sie erwarteten, dass ich putzte, kochte, einkaufte und mir darüber hinaus Gedanken über meine Zukunft machen sollte. Da war keinerlei Empathie für einen jungen Menschen, der einfach nur leben will. Schlafen, Musik hören, lesen, Fernsehen gucken und vielleicht ab und zu in die Disco gehen, ein paar Leute treffen und abtanzen. Schließlich hatte ich ein hartes Jahr hinter mir und bedürfte der Ruhe. Aber die Alten denken ja sowieso immer nur an sich. Das ist die Arroganz des Alters. Sie meinen, die ganze Welt sei ihnen etwas schuldig und habe sich vor ihrer überragenden Lebensleistung zu verbeugen. Dass auch junge Menschen Lasten zu tragen haben, leiden und sich mitunter quälen, das haben sie vergessen.
    Das ständige Genörgel und die Quasselei über meine Zukunft gingen mir wahnsinnig auf den Senkel, deshalb war ich heilfroh, als die Agentur mir recht rasch eine Stelle anbot, die mir wie ein Sechser im Lotto erschien: Ein Job in einem Diplomatenhaushalt in Rom! Rom, wie herrlich! Die ewige Stadt würde sich mir willig hingeben, so wie eine erwartungsvolle Konkubine sich entspannt in die Satinlaken sinken lässt. Ich war gerettet. Leben, ich komme!
    Es handelte sich um den Militärattaché der venezolanischen Botschaft, der mit seiner Frau und zwei Kindern in einer luftigen, luxuriösen Wohnung im barocken Viertel der Altstadt wohnte. Die Wohnung war riesig, von einem langen Flur gingen etliche Zimmer ab, neben den Schlaf- und Wirtschaftsräumen gab es einen Salon, eine Bibliothek, ein Kaminzimmer, ein Arbeitszimmer, einen Empfangsraum, das Wohnzimmer, Esszimmer, ja sogar ein Musikzimmer mit einem wundervollen Bechsteinflügel aus dem Jahre 1896. Das Instrument war aus Wurzelholz gefertigt und ein fulminanter Anblick, solide und würdevoll, aber doch filigran, fast wie eine zum Instrument gewordene Libelle, die ganz ruhig und mittig in der Waage war. Ich war stolz auf diese neue Interpretation von Marios Metapher. Meine Fähigkeit, sie zu ersinnen, überzeugte mich, dass ich die Philosophie des kleinen Italieners weiterentwickeln, ja, perfektionieren würde. Ich war viel besser als er! Mario war doch nur ein spärliches Licht.
    Immer wieder, wenn ich am Musikzimmer vorbeikam, hielt ich inne und betrachtete dieses prächtige, musikalische Kunstwerk. Schade war nur, dass nie jemand seine Seiten zum Schwingen brachte. Offensichtlich war der Flügel nur ein Schaustück des schönen Scheins, niemand konnte Klavier spielen. Was für eine Schande!
    Signora l’Attaché war primär mit ihrer eleganten und graziösen Erscheinung beschäftigt. Sie verbrachte ihre Tage in Kosmetiksalons, Frisurenstudios, bei Nageldesignern, auf Sonnenbänken, im Fitnesscenter, in Wellnessoasen, bei ayurvedischen Anwendungen, in Massagepraxen und teuren Boutiquen. Sie war stets unnahbar, umgeben vom Hauch einer vornehmen Kühle, und sah selbst dann gut aus, wenn man ihr nachts auf dem Flur begegnete. Ihre beiden Kinder, die dreijährige Concepcion und ihr fünfjähriger Bruder Alejandro, waren Madama dabei insgesamt sichtlich lästig. Doch dafür gab es ja nun mich.
    Alles andere erledigte Maria Pilar, die Haushälterin. Sie war Mitte vierzig, füllig, dabei aber flink wie ein Wiesel, ungeheuer praktisch und immer gut gelaunt. Ihr Pabellon Criollo, eine typisch venezolanische Hausmannskost, war ein Gedicht. Sie war eine bodenständige Pracht, diese Frau hatte einfach alles im Griff und kam niemals aus der Ruhe. Ich erfuhr später, dass sie ihren Mann bei einem Putschversuch in Venezuela verloren hatte, wonach sie eigentlich selbst auch verloren gewesen wäre, denn er hatte auf der falschen Seite gestanden. Doch der Attaché, bei dessen Eltern schon ihre Eltern in Diensten gestanden hatten, erbarmte sich ihrer und nahm sie unter seine Fittiche. Sie verdanke ihm ihr Leben, so erzählte sie mir. Deshalb hing sie mit treuer, ergebener Dankbarkeit an ihm und seiner Familie, ohne jedoch devot zu sein. Denn Maria Pilar kannte ihren Wert.
    Der Hausherr selbst, Signore l’Attaché, entschwand jeden Morgen um Punkt acht Uhr Richtung Botschaft und kam in der Regel erst spät zurück. Er pflegte dabei von einem dunklen Botschaftsfahrzeug chauffiert zu werden. Der Attaché war ein kleiner, sich betont aufrecht haltender Mann mit eisig autoritärer Ausstrahlung und leicht angegrautem Hitlerbärtchen. Für den Militärattaché einer sozialistisch geführten Bananenrepublik war das wohl ein passendes Accessoire. Zur Abrundung pflegte er eine

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