Wie die Libelle in der Wasserwaage
den Fernseher ein. Sofort trat Ruhe ein. Dieser elektronische Babysitter ist das Beste, was die Menschheit je ersonnen hat!
Maria Pilar wusste auch dank langjähriger Erfahrung, wann mit Madamas Rückkehr zu rechnen war. Mit instinktiver Sicherheit schaltete sie rechtzeitig den Fernseher aus, sorgte für Ordnung im Kinderzimmer und brachte Concepcion und Alejandro zur Raison. Kam Madama nach Hause, saßen zwei zauberhafte Musterkinder am Küchentisch und naschten Creme Caramel mit Erdbeeren. Ich liebte Maria Pilar. Ohne sie wäre ich womöglich zur Kindermörderin geworden.
*
Ich genoss die Abende, wenn die laue Spätsommerluft durch die lebhaften Altstadtgassen wehte und ich endlich frei war. Frei wie der Sommerwind, alle boshaften kleinen Nervensägen in weiter, sicherer Ferne.
Stundenlang saß ich auf der Spanischen Treppe und beobachtete dort das lebhafte Treiben der Touristen aus aller Welt.
Hier gab es alles Erdenkliche zu sehen, ein üppiges Füllhorn voller Geschichten. Schicke, zierliche Japaner, schlecht gekleidete Chinesen, Inder mit Turbanen und Frauen in bunten Saris, Amerikaner mit dicken Sonnenbrillen und ausgebleichten Shorts, schwarzverhüllte Nonnen und Araberinnen, die mit dunklen Gewändern verkleidet waren und wie Pinguine wirkten. Aufgequollene, bleichgesichtige Deutsche mit großen Fotoapparaten und rosahäutige Briten mit Bierdosen, Schwarze, die gefälschte Designertaschen feilboten, so lange keine Carabinieri in der Nähe waren. Herumlungernde Studenten, Almosen erflehende Zigeuner, griesgrämige alte Männer, aufreizend angezogene Huren, Herumtreiber, Lebenskünstler und Bettler aller Art, das ganze Spektrum menschlich-urbanen Daseins tummelte sich hier. Die Kakophonie eines babylonischen Gebrabbels und Rufens erfüllte die milde Luft.
Dann, eines Abends, lernte ich Gianni kennen. Ich liebte es.
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Gianni war Ende Zwanzig und umweht vom Hauch des Verwegenen. Lässig in Leinen gekleidet, ein neckischer Strohhut, dunkle Sonnenbrille, das schwarze Haar kurz geschoren und mit Gel akzentuiert, wirkte er cool und überlegen. Er war Künstler, ein begnadeter Maler, wie es mir schien, und er lebte in einer zauberhaften kleinen Dachwohnung, die so hinreißend klischeehaft war, dass jeder Filmregisseur der fünfziger Jahre sich die Finger nach dieser Location geleckt hätte. Zwischen Staffeleien, Paletten und Farbtöpfchen liebten wir uns leidenschaftlich auf seinem zerknitterten Bett. Er war ein feuriger Lover, es war die Boheme pur. Was für ein Gegensatz zu seinem drögen Landsmann auf Gran Canaria! Gianni hatte es wirklich drauf. Ich verlor mich in Wolken der Wollust.
Später dann, noch trunken vom Sex, tranken wir Rotwein auf seiner Terrasse, um uns herum nur laue Luft, Liebe, Sterne und die Dächer von Rom. Der Himmel war voller zuckersüßer Geigen und rosa Wölkchen. Im Rausche ist man nicht Herrin seines Denkens, sonst hätte ich wissen müssen, dass genau dieser Himmel drohte, mir auf den Kopf zu fallen. Schließlich hatte ich ja die Asterix-Bände ausgiebig studiert. Die größte Gefahr im Leben ist immer, dass einem der Himmel auf den Kopf fällt, lernt man da. Aber vorerst blieb er oben.
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Als der Herbst langsam, aber sicher ins Land zog und uns mit kühlem Odem in die Innenräume zurückzuwehen begann, gingen wir öfters aus. So schön die kleine Dachwohnung auch war, sie war beengt, überfüllt und auf Dauer nicht mehr inspirierend. Sie war kein Ersatz für die magische Luft der Dachterrasse, die uns mit unvorstellbaren zweitausendsiebenhundertsiebenundfünfzig Jahren Geschichte dieser sagenhaften Stadt bezirzte. Es zog uns hinaus.
Wir trieben uns in kleinen Ristorantes, Trattorien, Musikclubs, Bars und sonstigen Kaschemmen herum, wo ich die Freunde von Gianni kennenlernte. Die meisten waren ihrerseits Bohemiens, Maler, Sängerinnen, Tänzerinnen, Musiker, Dichter und sonstige Schöngeister. Menschen voller witziger Geschichten und tiefer seelischer Abgründe. Eines Abends stellte er mir Giandomenico vor.
Giandomenico war Anfang Sechzig und von gesetzter Statur, sein wirres, graues Haar hatte er zu einem neckischen Pferdeschwanz zusammengebunden. Stets umspielte ein leicht spöttisch wirkendes Lächeln seine Lippen. Man hatte den Eindruck, dass er ununterbrochen damit beschäftigt war, sein Gegenüber abzuschätzen und als unterlegen einzustufen. Dabei blieb er aber immer freundlich und war mitunter sogar ausgesprochen lustig. Er schien ein Menschenfreund zu sein, der die
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