Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie die Libelle in der Wasserwaage

Wie die Libelle in der Wasserwaage

Titel: Wie die Libelle in der Wasserwaage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almut Irmscher
Vom Netzwerk:
zurückziehen solle. Den Rest würde er übernehmen. Darüber war ich nicht wirklich böse, denn der Part mit der Erpressung war mir doch ein bisschen unheimlich. Im Grunde meines Herzens bin ich ja kein schlechter Mensch. Zwar kam ich auf diese Art um die Gelegenheit, die Forderung zu erhöhen, aber ich wählte den Weg des geringsten Widerstandes und verschwand in Richtung Bett.
    Vor Aufregung konnte ich allerdings nicht schlafen und lag stundenlang wach. Bestimmt würde Mario zu mir kommen, wenn die Angelegenheit abgeschlossen war. Warum kam er denn nicht?
    Und woher hatte er eigentlich seine Kenntnisse über die Wirkung von K.O.-Tropfen, von diesen selbst ganz zu schweigen? Die Gedanken bohrten in meinem Kopf. Wer war Mario wirklich? Was hatte er in seinem Leben schon alles getan? Und was plante er weiter? Was machte er jetzt mit dem dicken Mann aus dem Ruhrgebiet? Mich beschlichen Zweifel. Schließlich hielt ich es im Bett nicht mehr aus. Ich zog mich an und schlich zu Marios Zimmer, von dem ich einen Schlüssel hatte.
    Da lag er. Wie ein Baby auf seiner Matratze und schlief tief und fest. Ich rüttelte ihn wach und verlangte Aufklärung. Er sah mich zuerst verwundert an, lachte dann und zog zehn Fünfzigeuroscheine aus seiner Hosentasche. Die Aktion war ein voller Erfolg gewesen!
    *
    Eine Weile lief unsere neue Geschäftsidee ganz gut. Wir blieben bei der gleichen Strategie und entwickelten eine gewisse professionelle Routine. Ich eignete mir ein hinlängliches Repertoire an Smalltalk-Themen an, um die zehn bis zwanzig Minuten unbeschadet zu überbrücken, die vergingen, bis die Knock-Out-Wirkung einsetzte. Manche unserer Kunden, wie wir die Opfer mittlerweile euphemistisch zu nennen pflegten, wurden vorher zudringlich, zweimal musste mir sogar Mario zu Hilfe kommen, als sie mir an die Wäsche zu gehen versuchten. Aber ansonsten lief es gut. Die meisten benahmen sich wie Gentlemen, trotz aller im Verborgenen brodelnden Lüsternheit.
    Der Vorteil der K.O.-Tropfen, mit denen ich mich langsam anzufreunden begann, liegt darin, dass das Opfer wirklich alles vergisst. Es war also im Grunde völlig egal, was wir mit unseren Kunden taten. Diese Tropfen waren tatsächlich praktisch.
    Manche wurden nicht einmal bewusstlos. Das war mir zwar zunächst unheimlich, doch hatte es unbestreitbare Vorteile. Wir mussten keine schlaffen, überschweren Körper wuchten, sie folgten uns ganz freiwillig auf den Clubsessel. Ja, sie halfen sogar beim Ausziehen mit. Aus eigenem Antrieb unternahmen sie allerdings gar nichts. Sie waren willenlose Marionetten, ganz wie neue, noch nicht programmierte Roboter, Zombies ohne eigenes Hirn. Das war gruselig, aber man gewöhnt sich daran. Wir waren ja keine üblen Sadisten und taten ihnen nichts weiter an, als ein kleines, bescheidenes Bildchen zu erstellen.
    Wir hatten im Schnitt zwei Kunden pro Woche, wenn es gut lief, waren es sogar drei. Das machte fünfhundert bis siebenhundertfünfzig Euro wöchentlichen Nebenverdienst für jeden von uns. Nicht gerade üppig, aber ganz nett. Zumal die Sache gut funktionierte. Niemand beklagte sich. Der eine oder andere reagierte empört, versuchte zu handeln oder heischte um Mitleid. Doch am Ende zahlten sie alle. Und sie bekamen dafür ja auch ein hübsches Erinnerungsfoto. Sozusagen als Ersatz für die Erinnerung, die ihnen abging. Dafür konnten sie sich aber in ihrer Phantasie die herrlichsten Dinge ausmalen. Ist das nicht allemal besser als verkorkster Sex?
    *
    Dann ging etwas schief.
    Er war ein dünner, hoch aufgeschossener Mensch mit Hühnerbrust und schütterem Haar, vielleicht Ende fünfzig. Pünktlich um halb Zwölf erschien er in der Bar, eine Flasche mit bräunlichem Inhalt unter dem rechten Arm haltend. Mario fragte ihn, was er trinken wolle, und er lehnte dankend ab. Denn er mache gerade eine Entgiftungskur und nehme nichts anderes zu sich als Kombuchatee, verkündete er stolz, dabei hielt er strahlend die mitgebrachte Flasche mit dem braunen Zeug in die Höhe.
    Wie bescheuert kann man eigentlich sein? Da verabredet man sich spät abends zu einem schmuddeligen Date in der Bar und trinkt dann Tee? Ach, was rede ich von Tee, Tee wäre ja schlimm genug, ich kann mir kaum ein spaßbefreiteres Getränk vorstellen. Tee ist etwas für Gesundheitsapostel mit langen, blassen, strengen Gesichtern, Leute, die meinen, sich auf einer höheren Daseinsebene der Vernunft zu befinden, von der sie auf das Gewürm herabblicken, dass sich niederen Trinkgenüssen

Weitere Kostenlose Bücher