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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
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einst riet: >Dimitru, vergiss diese Marxisten. Wenn du dich durch die Stürme des Glaubenszweifels kämpfen willst, lies den Nietzsche Friedrich.<
    Dann studierte ich die Geschichte, die ich schon ein Dutzend Mal studiert hatte, erneut. Ein Verrückter rennt am helllichten Tag mit einer Laterne durch die Gegend und sucht Gott. Aber er findet ihn nicht. Und dann behauptet er auch noch, wir hätten Gott getötet. Ganz recht bemerkt dieser Bursche, dass die Tat der Gottestötung wohl zu groß für die Menschheit war. Weil sie, wie ich selber konsterniere, seitdem in der Kälte der Nacht durch ein unendliches Nichts taumelt. Doch ist dieses Nichts überhaupt denkbar? Und wenn ja, wie ist es zu ertragen? Wer vermag es auszuhalten? Muss es nicht überwunden werden? >Müssen wir nicht selber zu Göttern werden?< Das ist die Frage, Pavel Botev! Merk dir das. Nietzsches toller Mensch hat diese Frage gestellt, aber jetzt wird sie beantwortet. Und zwar mit Ja. Von Koroljow. Selber zu Göttern werden! Selber Gott sein! Die Bücher vom Marx hat der Ingenieur Nummer eins nur im Regal, damit die Genossen zufrieden sind. Glaub mir, Pavel, der Koroljow hat den Nietzsche gelesen. Deshalb wusste er, der verrückte Mensch mit der Lampe war seiner Zeit voraus. Er kam mit seiner Botschaft zu früh. Die Menschen waren noch nicht reif für die Nachricht vom Tod Gottes. Aber jetzt sind sie es. Der Russensputnik hat verifiziert, die Schwerkraft lässt sich überwinden.
    Götter werden! Zu den Sternen fliegen! Die Heimat im Himmel! Schwerelos! Enthoben von den Banalitäten des irdische n Jammertals! Pavel, das ist es! Koroljow tritt das Erbe von Dädalus und Ikarus an. Nur viel schlauer. Eingesperrt waren die beiden Griechen einst im Labyrinth vom Tyrannen Minos, in dem Irrgarten, den Dädalus blöderweise selber so raffiniert konstruiert hatte. Leider hatte der Baumeister auf seine alten Tage den Ausgang vergessen, aber seine Findigkeit, die hatte er nicht eingebüßt. Merk dir, Pavel, wenn es links und rechts, vorne und hinten nicht weitergeht, dann bleibt nur der Weg nach oben. Da baut Dädalus kurzerhand Flügel für sich und seinen Sohn. Gut so weit. Schlecht ist nur, dass er zum Ankleben Wachs nimmt, dieser Idiot. Und dieser ungestüme Ikarus will nicht nur raus aus dem Irrgarten, er will zum Himmel. Fliegt höher und höher, zu nah an die Sonne. Das Wachs schmilzt, was er sich vorher hätte denken können, und rums!, fällt der Kerl wie ein Stein ins Meer.
    So dämlich ist Koroljow nicht. Seine Flugmaschinen taugen was. Die Testsputniks haben funktioniert. Die Absicht hinter >dem Projekt< ist evidentisch. Selber Götter werden! Koroljow ist der neue Ikarus. Verstehst du, Pavel, dieser Schnauzbart Nietzsche ist die Herausforderung. Papa Baptiste hatte recht. Wie immer. Aber schau dich im Dorf um. Die Leute hören auf die Konstantin, und die Erinnerung an den seligen Papa Baptiste verblasst. Ohne Grabstatt kein Gedenken. Und ich wette mit dir, Pavel, hinter dem Verschwinden seines Leichnams und dem Verschwinden der Madonna vom Ewigen Trost lauern dieselben Kausalitäten.«
    Mit dem späten Frühling im Jahr '58 kehrte in Baia Luna das Leben wieder ein. Die Bauern brachten die Saat aus, die Frauen schwatzten am Waschplatz, und die Eltern hofften, die Bezirksregierung würde demnächst eine neue Lehrperson nach Baia Luna entsenden.
    In unserer Familie indes war die Stimmung schlecht. Großvater Ilja litt wie ein Hund. Morgens kam er kaum aus den Federn, griesgrämig plagte er sich durch den Tag, nachts wälzte er sich friedlos in seinem Bett. Wer abends die Schankstube betrat, der traf auf einen reizbaren und mürrischen Gastwirt, der die Flaschen auf den Tisch knallte und außer ein paar muffigen Satzfetzen kein freundliches Wort herausbrachte. Der Zwist mit Dimitru machte ihm ärger zu schaffen, als ihm lieb war. Seit Koras Auftritt in der Kirche hatte der Zigan kein Wort mehr mit Ilja gewechselt. Über den schmerzenden Verlust des Freundes tröstete sich Großvater hinweg, indem er schon morgens ein Glas trank, um den Tag mit einem gewissen Maß an Gleichmut zu beginnen. Da die Wirkung des Zuikas in immer kürzeren Zeitabständen nachließ, wie seine Übellaunigkeit zunahm, sah er sich genötigt, mit weiteren Gläsern seine trügerische Gemütsruhe aufrecht zu erhalten.
    Bis eines Morgens Vera Raducanu nach einem Pfund Zucker verlangte, und Großvater nur sagte: » Leck mich am Arsch!« Als Vera daraufhin mit der Nase schnüffelte und

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