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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
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flitzten am Himmel, und auf den Dorfweiden blökten die ersten Lämmer. Wie jedes Jahr. Die Bauern zogen mit Pferd, Pflug und Egge aufs Land, um ihre Äcker für die Aussaat zu bereiten, während die Zigeuner nach der Schneeschmelze stundenlang am Ufer der Tirnava standen und in den reißenden Fluss starrten, betend, das steigende Hochwasser möge ihre Behausungen dieses Jahr verschonen. Dimitru hatte sich in der Bücherei verschanzt. Ich vermutete, dass er bei seinen Spekulationen über die Möglichkeit der leibhaftigen Aufnahme der Gottesmutter Maria in den Himmel noch immer im Nebel der Ungewissheit stocherte.
    Großvater Ilja schmerzte zutiefst, dass er Dimitru mit seiner Arglosigkeit zum Zeugen der schrecklichen Kara Konstantin gemacht hatte, und unternahm allerhand Versuche, wieder an die alte Freundschaft anzuknüpfen. Mal zog er reumütig mit einer Flasche Gebranntem in die Bibliothek, mal brachte er dem Zigan eine Kubanische aus Bulgarien, was den Rhythmus seiner Rauchgewohnheiten völlig aus dem Takt brachte. Meine Tante Antonia, die mitbekam, wie sehr ihren Vater der Verlust des Freundes quälte, war sogar ohne Murren einverstanden, dass Opa die letzte Schachtel Nougatpralinen zu Dimitru trug. Er nahm die Geschenke zwar an, sprach aber kein Wort und beugte sich sofort wieder über seine Bücher, was Großvater zu der Annahme verleitete, der Zigan habe für alle Zeiten mit ihm gebrochen.
    Von allen schlechten Charaktereigenschaften, die man den Schwarzen im Lande nachsagte, war eine Eigenart ausgenommen. Nachtragend oder gar rachsüchtig zu sein, das konnten selbst Zeitgenossen mit übler Gesinnung keinem Zigeuner vorwerfen. Auch wenn Großvater für Dimitru als Verbündeter in historischer Mission disqualifiziert war, so hatte er sich im Stillen längst mit Ilja versöhnt, wie er mir Jahre später vertraulich erzählte.
    Ich greife daher vor auf den 12. April 1961. An das Datum erinnere ich mich genau, weil an diesem Tag mit Juri Alexejewitsch Gagarin erstmals ein Mensch in der Schwerelosigkeit des Weltalls schwebte. An diesem Tag brach Dimitru Carolea Gabor ein langjähriges Schweigen und vertraute mir in einer ruhigen Stunde seine Gedanken an. Damals war ich mir sicher, seine verwegenen, gar tollkühnen Theorien waren hoffnungslos abwegig. Heute, im Alter, maße ich mir ein solches Urteil nicht mehr an.
    »Pavel«, sagte er, »es war niemand mehr da, und ich hatte das Kreuz der Einsamkeit alleine zu schultern. Niemand im Dorf war und ist im Entferntesten in der Lage, die weltgeschichtliche Bedrohung durch die Raketen der Sowjets in principio zu begreifen. Auch dein guter Großvater Ilja war überfordert. Er ist unfähig zu berechnendem Kalkül. Und es war mein eigener Errorfatal gewesen, meinen Freund in meine Mission zur Rettung der Gottesmutter Maria hineinzuziehen. Ilja verfügt nicht über die Strategien der List. Seine Redlichkeit in Ehren, aber doch nicht gegenüber dieser dämlichen Konstantin und ihren Betbrüdern. Außerdem hat Ilja zu viel geredet. Aber es ist Mea culpa maxima. Ilja hat zu viel geredet, weil ich ihm zu viel erzählt habe. Daher constituierte ich. Ich fasste den Entschluss zu schweigen. Und ich legte ein Gelübde ab. Kein Wort sollte mehr über meine Lippen kommen, bis zu dem Tag, an dem mein Streben nach Erkenntnis vom Erfolg des Wissens gekrönt sein würde. Der Antwort auf die Frage: Wo ist die Maria nach ihrer Himmelfahrt geblieben?
    Erinnere dich, Pavel. Schon Papa Baptiste hatte gewarnt, Himmelfahrten seien allein dem Auferstandenen und seiner Mutter vorbehalten. Und nun maßt der Sowjet sich an, es ihnen gleichzutun. Präsident Chruschtschow hat eine Mondlandung versprochen, und sein bester Raketenbauer soll sie in die Tat umsetzen. Allein der hybride Koroljow ist dazu in der Lage. Er ist ein ausgefuchster Ingenieurmeister, schlau und belesen. Marxist! Deshalb habe ich damals in der Bibliothek alle Bände von Karl Marx durchgekämmt. Aus erster Hand hoffte ich, einen klandestinen Hinweis zum Thema Auferstehung und Himmelfahrt zu finden. Aber vergiss es, Pavel, da findest du nichts Brauchbares. Ich überlegte dann, mir in gleicher intentio die Werke vom Lenin vorzuknöpfen, da machte ich eine Entdeckung: Mir fiel eine Schrift in die Hände, die ich dir schon vor Jahren dringend zur Lektüre empfohlen habe. Aber du hörst ja nicht auf mich. Das Buch lag aufgeschlagen unter einem der vielen Bücherstapel. Als es mich anschaute, erinnerte ich mich an Papa Baptiste, der mir

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