Wie die Menschheit zur Sprache fand
er die Tücher weg, bekamen die Jungtiere Wutanfälle, die groÃe Ãhnlichkeit mit denen hatten, die unsere Babys an den Tag legen, wenn man ihnen ein Lieblingskuscheltier oder die Schmusedecke wegnimmt. Auf diese eher unspektakuläre Beobachtung hin führte er eine Reihe von Experimenten durch, bei denen neugeborene Makaken von ihrer Mutter getrennt und mit zwei Mutterattrappen aufgezogen wurden. Eine dieser künstlichen Mamas bestand aus Maschendraht und hatte in der Mitte ihrer Brust einen einzelnen Sauger, aus dem das Junge trinken konnte. Der anderen fehlte diese Nahrung spendende Konstruktion, bei ihr war das Drahtgerüst mit weichem braunem Frottee umhüllt. »Das Ergebnis«, so Harlow, »war eine Mutter, weich, sanft und warm, eine Mutter von unendlicher Geduld, eine Mutter, die 24 Stunden am Tag zur Verfügung stand, eine Mutter, die ihr Kind nie ausschalt und im Zorn schlug oder biss.« 3 Und Harlowe stellte fest, dass ungeachtet dessen, dass Kleinaffen und Menschenaffen in freier Wildbahn unausgesetzt an ihrer Mutter festgekrallt hängen und dabei gleichzeitig ständig gesäugt werden, die isoliert aufgezogenen Makaken den allergröÃten Teil ihrer Zeit an der gepolsterten milchlosen Attrappe verbrachten und die Drahtmutter nur aufsuchten, um ihren Hunger zu stillen.
Abbildung 3.2 Ein Makakenbaby klammert sich an eine Mutterattrappe. Mit freundlicher Genehmigung des Harlow Primate Laboratory, University of Wisconsin/Madison
Je gröÃer die Jungen wurden, desto stärker wurde ihre Bindung zu der gepolsterten Attrappe. Nahm man sie aus dem Käfig, kauerten sich die Jungen in eine Ecke und umklammerten verzweifelt ihren eigenen Leib. Setzte man das Junge samt der gepolsterten Ersatzmutter in eine fremde Umgebung mit Gegenständen, die die Neugier des Jungtiers erregten, dann eilte das Junge zuallererst zu der Ersatzmutter und klammerte sich an ihr fest; sie war ihm mit der Zeit zu einem Hort der Sicherheit geworden. Harlow beobachtete auÃerdem, dass Neugeborene am Anfang dem Gesicht der Mutterattrappe wenig Aufmerksamkeit schenkten, im Alter von etwa einem Monat jedoch anfingen, die einfache Holzkugel mit Fahrradreflektoren als Augen daran mit gröÃter Aufmerksamkeit zu bedenken. Bei einem seiner Experimente wurde das Attrappengesicht durch eine realistischere
Affenmaske ersetzt, worauf das Jungtier zu schreien begann, sich in eine Ecke verkroch und heftig hin und her zu schaukeln begann, vermutlich weil dies nicht mehr »Mamas« Gesicht war. Die gepolsterte Attrappe war zur einzigen Mama geworden, die das Jungtier kannte, und es verwundert nicht, dass diese Ãffchen, als sie heranwuchsen und selbst Mütter wurden, in dieser Rolle hoffnungslos versagten.
Harlows Experimente zeigten nicht nur, dass Primatensäuglinge ein starkes Bedürfnis nach engem Körperkontakt zu ihren Müttern haben, sondern auch, dass ein solcher »tröstlicher Kontakt« wichtig ist, um selbst die Fähigkeit zu lieben und eine normale emotionale Reife zu erlangen. Er mutmaÃte sogar, dass die Hauptfunktion des Stillens in der Begünstigung der emotionalen Entwicklung eines Jungtiers liege, weil es den ständigen Kontakt mit seiner Mutter sichere. Seine Schlussfolgerung - dass das Verlangen eines Neugeborenen nach Körperkontakt und Kuscheln nicht minder tief verwurzelt ist als das Verlangen nach Nahrung - galt in den 1950er-Jahren als ausgesprochen radikale Position. Auch wenn seine Experimente heutzutage nicht mehr erlaubt wären, ist es Harlow hoch anzurechnen, dass er dazu beigetragen hat, die damals aktuelle amerikanische Erziehungsmode, Kinder auf keinen Fall zu liebkosen, umzukehren. Diese ging auf die Ansichten des Psychologen John Watson zurück, Begründer der amerikanischen Schule des Behaviorismus, der im Zusammenhang mit der Erziehung von Kindern riet: »Niemals küssen und in den Arm nehmen, nie auf dem Schoà sitzen lassen. Wenn es sein muss, einen einzigen Kuss auf die Stirn, bevor sie zu Bett gehen. Es morgens bei einem Handschlag belassen.« 4
Harlows Ergebnisse lassen sich auch auf Menschenkinder übertragen. Selbst wenn sie sich nicht ohne Hilfe an der Mutter festhalten können, werden sie doch mit überaus starken Greifreflexen geboren. Menschenkinder suchen wie Harlows Affen instinktiv nach engem Körperkontakt zu ihren Betreuern. Forschungen an amerikanischen Babys lassen vermuten, dass der
Hauptgrund
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