Wie ein einziger Tag
würden.«
Zwei Wochen später kann ich das Krankenhaus verlassen, doch ich bin nur noch ein halber Mensch. Wenn ich ein Auto wäre, würde ich mich im Kreis drehen, denn meine rechte Körperhälfte ist schwächer als die linke. Das sei, sagt man mir, eine gute Nachricht, denn die Lähmung hätte auch beidseitig sein können. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich nur von Optimisten umgeben.
Die schlechte Nachricht ist, daß meine Hände es mir nicht erlauben, Krücken oder einen Rollstuhl zu benutzen, und so muß ich mich in einem speziellen, mir eigenen Rhythmus vorwärtsbewegen, um mich aufrecht zu halten. Nicht mehr links-rechts-links, wie früher, auch nicht schluff-schluff, wie kürzlich noch, sondern langsam-schluff, rechts-vor, langsam-schluff. Es ist ein Abenteuer für mich, durch die Flure zu gehen. Es geht nur langsam vorwärts, selbst für mich, der bereits vor zwei Wochen eine Schildkröte nur mit Mühe überholt hätte.
Es ist spät, und als ich endlich mein Zimmer erreiche, weiß ich, daß ich nicht schlafen werde. Ich atme tief durch und verspüre den Frühlingsduft, der im Zimmer hängt. Das Fenster ist weit geöffnet, und die kühle Luft belebt mich. Evelyn, eine der vielen Krankenschwestern, ein junges Ding von höchstens fünfundzwanzig Jahren, hilft mir in meinen Sessel am Fenster und will das Fenster schließen. Ich hindere sie daran, und sie fügt sich mit einem Stirnrunzeln. Ich höre, wie eine Schublade geöffnet wird, und einen Augenblick später wird mir eine Wolljacke über die Schultern gelegt. Evelyn behandelt mich wie ein Kind, und als sie fertig ist, legt sie mir die Hand auf den Arm Sie sagt die ganze Zeit kein Wort, und an ihrem Schweigen erkenne ich, daß sie aus dem Fenster schaut. Eine ganze Weile steht sie regungslos da, und ich frage mich, woran sie wohl denkt. Schließlich höre ich sie seufzen. Sie wendet sich schon zum Gehen, hält dann aber plötzlich inne, beugt sich herab und drückt mir einen Kuß auf die Stirn, ganz zart, so wie meine Enkelin es tut. Das überrascht mich, sie aber sagt ruhig: »Wie gut, daß Sie wieder da sind. Allie hat Sie vermißt, und wir ändern auch. Wir haben für Sie gebetet, denn es war ganz leer hier ohne Sie.« Sie lächelt mir zu und streicht mir, bevor sie geht, mit dem Handrücken über die Wange. Ich sage kein Wort. Später höre ich sie draußen noch einmal Vorbeigehen und mit einer anderen Schwester flüstern.
Die Sterne sind heute abend sichtbar, und die Welt schimmert in einem unwirklichen Blau. Die Grillen zirpen, und ihr Lied übertönt alle anderen Geräusche.
Während ich so dasitze, überlege ich, ob irgendwer dort draußen mich, den Gefangenen meines Körpers, sehen kann. Mein Blick wandert zu den Bäumen, zu den Bänken am Wasser und sucht nach einem Lebenszeichen, doch da ist niemand. Selbst der Fluß ist ruhig. Im Dunkel wirkt er wie ein leerer Raum und zieht mich in seinen Bann, wie ein Geheimnis. Ich blicke lange hinaus, und nach einer Weile sehe ich Wolken, die sich auf dem Wasser spiegeln. Ein Gewitter zieht heran, und der Himmel wird silbrig, wie eine zweite Dämmerung.
Blitze durchzucken den stürmischen Himmel, und meine Gedanken schweifen zurück. Wer sind wir, Allie und ich? Sind wir wie altes Efeu auf einer Zypresse, mit Ranken, so eng verschlungen, daß wir beide stürben, wenn man uns gewaltsam trennte? Ich weiß es nicht. Ein weiterer Blitz, und der Tisch neben mir ist so hell erleuchtet, daß ich ein Foto von Allie sehe, das schönste, das ich von ihr besitze. Ich habe es vor Jahren rahmen lassen, in der Hoffnung, unter Glas würde es die Zeit überdauern. Ich greife danach und halte es dicht vor meine Augen. Sie war damals einundvierzig und schöner als je zuvor. Ich hätte so viele Fragen an sie, doch das Bild wird mir keine Antwort geben, und so lege ich es beiseite.
Heute nacht bin ich wieder einmal allein, während Allie am anderen Ende des Flures in ihrem Zimmer schläft. Ich werde immer allein sein. Dieser Gedanke war mir gekommen, als ich im Krankenhaus lag. Und davon bin ich auch jetzt überzeugt, während ich wieder aus dem Fenster schaue und die Gewitterwolken sich nähern sehe. Und plötzlich bin ich tieftraurig, denn mir wird bewußt, daß ich Allie an unserm letzten gemeinsamen Tag nicht geküßt habe. Vielleicht werde ich es nie mehr können. Bei dieser Krankheit weiß man das nie. Warum nur kommen mir solche Gedanken?
Schließlich stehe ich auf, gehe zu meinem Schreibtisch und knipse das
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