Wie ein Haus aus Karten
der Bundesrepublik waren zu wohlhabend geworden, sie brauchten Josef Neckermann nicht länger.« Unabhängig von der Frage, was mein Stiefbruder unter »zu wohlhabend« versteht, sind die Hintergründe der Übernahme, wie Annemi im Weihnachtsbrief von 1976 schreibt, wesentlich »vielfältiger«.
Dieser Brief macht, besser als jedes offizielle Dokument, das in diesem Zusammenhang herausgegeben wird, deutlich, wie die Familie den Untergang der Firma Neckermann erlebt. Der Weihnachtsbrief beginnt mit den Worten »Unsere Kapitulation ist unterzeichnet worden« und fährt fort: »Ich saß mit Johannes, Inki und Frau Singer hier, auf Neckos Rückkehr wartend. Er kam dann auch von einer sechzehnstündigen Verhandlung, in der es für uns um Sein oder Nichtsein ging, wie ein Schatten nach Hause. Das Unternehmen war gerettet und damit die Existenz von Zigtausenden, wir konnten aufatmen, wenn für uns selbst auch nichts geblieben ist von einem Lebenswerk, das mit so viel Idealismus geboren und geführt worden ist. Die vorangegangenen Wochen und Monate waren eine Hölle für uns.«
Annemi schreibt, dass es »im April mit Verhandlungen mit Karstadt begann, die zu keinem Vertragsabschluss führten, da der Vorstand sich nicht einigen konnte. Im Juni kommt es durch eine weitere Konzession von Necko zu einem neuen, endgültigen Vertragsabschluss, der als eine weitsichtige Tat für unser Unternehmen gepriesen wurde. Hierbei erneuerte Necko seine Zusage, nach dem Abschluss mit Karstadt und der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft aus der aktiven Geschäftsführung auszusteigen. Nun brauchten wir nur noch die Zusage vom Kartellamt.« Und sie fährt fort: »Die Unruhe und Unsicherheit bei unseren Mitarbeitern und Kunden wuchs mit jedem Tag. Ein Teil der Banken kündigte die Kreditlinie auf, und nun begann eine schwindelnde Talfahrt, der Vergleich für die Firma Neckermann musste vorbereitet werden.« Voller Stolz schreibt Annemi: »Da läutete die Startglocke für den alten Kämpfer Necko. Die ganze Bundesrepublik mobilisierte er bei Tag und Nacht, von den Gewerkschaften bis zum Bundeskanzler. (…) Aber nun ging es nicht mehr um Tage, sondern um Stunden, und am 20. November endlich kam das ›ja‹ vom Bundeskartellamt. Wir atmeten auf, das Schlimmste schien abgewendet. Aber jetzt wollte Karstadt nicht mehr und stellte unerfüllbare Bedingungen an die Banken, die nun alle Anstrengungen machten, mit uns zu retten, was zu retten war. Montag, 29. 11., soll nun endlich der Vergleich angemeldet werden. Eine Welt brach für uns zusammen.«
Man kann davon ausgehen, dass auch die Persönlichkeitsstruktur meines Pflegevaters zu dieser Entwicklung beigetragen hat. Was für seinen legendären wirtschaftlichen Erfolg in den deutschen Nachkriegsjahren, den sogenannten Wirtschaftswunderjahren, zu denen Necko maßgeblich beigetragen hat, entscheidend gewesen ist, sein dynamischer Unternehmergeist, seine Risikobereitschaft, sein ganz auf seine Person ausgerichteter autoritärer Führungsstil, der keinen Widerspruch duldet, und seine einsamen Entscheidungen, das alles passt nicht mehr zu den sich im Laufe der Jahrzehnte verändernden Managementstrukturen der Wirtschaft. Ein Team von Experten mit verteilter und gleichberechtigter Verantwortung, das will, das kann der Einzelkämpfer nicht akzeptieren. Das ist nicht seine Welt. Mein Pflegevater kämpft einen letzten großen Kampf, um, wie es in Annemis Weihnachtsbrief steht, »zu retten, was zu retten ist«, dann gibt er sich geschlagen, aber er gibt nicht auf. Er sattelt um.
Mein Pflegevater ordnet seine vielfältigen Aktivitäten neu, verlagert seine Schwerpunkte und widmet sich intensiver denn je der Sporthilfe, auf deren jährlichem »Ball des Sports« er sich souverän und charmant, sein stereotypes Lächeln auf den geschlossenen Lippen, im Mittelpunkt der bundesdeutschen Society bewegt. Annemi begleitet ihn nur noch selten zu solchen Anlässen, sie ist krank. Doch sie genießt die sonntäglichen Frühstücke, wenn alle Stühle um den überdimensionalen runden Tisch im ebenfalls runden, weiträumigen Speisessaal, der sonst nicht so häufig zum Einsatz kommt, mit Familienmitgliedern und Freunden besetzt sind, bevor sich die Tafelrunde in die nicht am Reiten Interessierten, die das hauseigene Hallenbad bevorzugen, und die weitaus größere Zahl derjenigen teilt, die mit oder ohne Reitdress zu den Stallungen aufbrechen.
Ingrun hat zusammen mit Johannes und den Kindern viele Wochenenden in Kirchborn
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