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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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verbracht. Kurz nach ihrem Tod 1977 wird der Platz neben dem jungen Witwer von der Jugoslawin Lil eingenommen, die im Versandhandel der Firma Neckermann arbeitet und in nahtlosem Übergang als Kindermädchen für die Halbwaisen Markus, Julia und Lukas eingestellt wird. Als solches wird sie zunächst bei allen Familienfesten mit und ohne Kinder eingeführt. Die letzte Haushälterin der Familie Neckermann, Maria Engelberti, die als junges Mädchen mit zwei Koffern voller Kochbücher, einer Ausbildung als Hauswirtschaftlerin, aber ohne Berufserfahrung aus der Eifel nach Frankfurt kommt, um ihren Dienst bei meinen Pflegeeltern anzutreten, erinnert sich, dass das neue Kindermädchen, für das sie, in der Annahme, es gehöre zum Personal, bereits in der Küche gedeckt hat, am Esstisch im Speisesaal Platz nehmen darf. Johannes und Lil heiraten 1979 und ziehen nach Johannes’ Ausscheiden aus der Firma Neckermann in die USA . Später erwirbt er für sich und seine zweite Frau, die Kinder sind inzwischen aus dem Haus, ein Anwesen am Schuyler Lake im Staat New York, das er »Lakeview« nennt.
    Kirchborn ist Annemis Zuhause, vom ersten Tag an. Sie fühlt sich wohl inmitten der Natur und nah am Wald, in dem sie täglich mit ihren Hunden spazieren geht. Als ihr Pudel Sascha stirbt, schreibt meine Pflegemutter in einem Weihnachtsbrief: »Ich wollte treu sein und ehrlich um ihn trauern, aber ich muss gestehen, länger als ein Vierteljahr habe ich es nicht ausgehalten, und nun ist ein kleiner Sony da, ein silbergrauer Zwergpudel mit einem zauberhaften Gesichtchen.« Auf ein Tier, das ihr gehört und das nur sie liebt, kann und will sie nicht mehr verzichten. Pudel Sony wird in Kirchborn zu ihrem engsten Gefährten. Annemi lässt ihn von der bekannten Pferdemalerin Inge Ungewitter, die auch einige von Neckos Lieblingspferden in Öl festgehalten hat, in Pastelltönen malen. Sonys Fell glänzt silbergrau, sein Halsband ist aus Strass und sein Blick traurig.
    Das Gemälde erinnert mich an ein Porträt meiner Pflegemutter, das an exponierter Stelle im Wohnsalon in Kirchborn hängt. Ich habe es nie gemocht, obwohl Annemi sehr schön darauf aussieht. Auch dieses Gemälde ist in Pastelltönen gehalten, die Nerzstola, die auf ihren Schultern liegt, ist silbergrau, fast so wie Sonys Fell, und statt des Halsbands aus Strass, das den dünnen Pudelhals ziert, trägt Annemi eine doppelreihige Perlenkette mit einem kirschgroßen, von Diamanten eingefassten Saphir. Auch ihre Augen blicken den Betrachter mit einem Anflug von Traurigkeit an, selbst wenn die Lippen ein Lächeln andeuten. Beide Gemälde lösen bei mir das Gefühl aus, zu viel Zuckerwatte gegessen zu haben, und beide stimmen mich melancholisch.
    In der Welt meiner Pflegemutter wie in ihrem Herzen nehmen Tiere, die lebendigen und die mit dem Knopf im Ohr, einen wichtigen Platz ein, und beide sind in Kirchborn zu Hause. In einem Weihnachtsbrief berichtet Annemi von »einem Erpel und seinen zwei Entendamen und sieben entzückenden klitzekleinen Entenkindern«, die sich im Teich vor dem Haus niedergelassen haben. Meine Pflegemutter macht sich, wie sie berichtet, »großes Kopfzerbrechen wegen der Familienverhältnisse der Enten« und informiert den geneigten Leser auch über das Ergebnis: »Der Entenpapa entschwand mit neuer Freundin und ward nie mehr gesehen.«
    Es gab Zeiten, in denen ich die rührend kindlichen Zeilen aus der Feder meiner Pflegemutter, einer erwachsenen, lebenstüchtigen Frau, die den Zenit ihres Lebens längst überschritten hat, belächelt habe. Inzwischen aber offenbaren mir diese Briefstellen einen Menschen, der nichts lieber möchte, als sich in diese heile, überschaubare Welt zu flüchten.
    Auch Annemis Lieblingsbücher, die in einem kleinen Schleiflackregal in ihrem Schlafzimmer stehen, entführen sie in eine andere Welt. Ihre Begeisterung für die Autorin Anne Golon und deren Protagonistin Angélique beschäftigt mich immer wieder. Welche Momente der Identifikation mit der Heldin kann es für Annemi gegeben haben? Muss sie den ausschweifenden Lebenswandel der Romanheldin nicht rundweg verurteilen? Ich sehe meine Pflegemutter vor mir, wie sie abends vor dem Einschlafen ihre Lieblingslektüre zur Hand nimmt und in der abenteuerlichen Welt Angéliques ebenso wohlig versinkt wie in ihren seidenen Kissen.
    Die Heldin ihrer Bettlektüre ist nicht nur unwiderstehlich schön, sie kann sich auch ungehindert den Liebesfreuden mit unterschiedlichen Partnern hingeben,

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