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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Stuttgarter Neckermann-Filiale. Tritt das Paar gemeinsam auf, entsteht der Eindruck, als lägen mehr als zwanzig Jahre zwischen den beiden. Lilos Ehemann Ullrich geht schwimmen, spielt Tennis und hält sich fit. Er ist das Bild eines attraktiven, drahtigen Mannes in den besten Jahren.
    Das Bild meiner Tante Lilo ist dagegen gekennzeichnet von Maßlosigkeit. Sie trinkt zu viel, raucht zu viel und isst zu viel. Manchmal auch zu wenig. Wenn ihre Schwester Annemi ihr ins Gewissen redet, weil sie zu dick geworden sei, nimmt Lieselotte genauso schnell wieder ab, wie sie die Pfunde zugelegt hat. Ein Umstand, der sich zwar vorteilhaft auf ihre Figur, nicht aber auf ihr Gesicht auswirkt. Die miteinander verzahnten, sich überlagernden Vertiefungen und Buchten um Augen und Mundwinkel nehmen den Charakter einer topographischen Landkarte an.
    Die Ehe der beiden ist glücklich und dauert bis zu Lilos Tod. Gerade dieser erfreuliche Umstand stellt eine weitere Irritation für die Familie dar, vor allem für Annemi. Es passt nicht in ihr Lebensmuster, dem zufolge man unter Missachtung von Disziplin und Selbstverleugnung keine gute Beziehung führen kann. Für sie und somit für den Rest der Familie gilt: »Eine Frau muss für ihren Mann da sein, und sie muss schön sein.«
    Meine Tante Lilo ist auch taub für die Bitte ihrer Schwester, sich von ihrer Haarfarbe, die zwischen Auberginerot, Ziegelrot und Orange changiert, zu verabschieden und ein ihrem Alter gemäßes Grau zu wählen. Auch während ihrer langen Krankheit und Leidenszeit, die sie mit großem Optimismus und der Disziplin, die Annemi bisher an ihr vermisst hat, erträgt, leuchtet ihr immer schütterer werdendes Haar in feurigem Rot. So ist meine Tante Lilo. Im Tod darf sie es nicht mehr sein. Gegen die Bedenken ihres Mannes, der sie bis zu ihrem Ende liebevoll pflegt, sich jedoch gegenüber den Wünschen seiner Schwägerin nicht durchsetzen kann, werden die Haare der Toten auf Anweisung ihrer Schwester entfärbt. Im geöffneten Sarg, an dem die Trauernden ein letztes Mal von Lilo Abschied nehmen, liegt eine alte, unbekannte Frau mit schneeweißem Haar, die älter aussieht als ihre leibliche Mutter. Meine Pflegemutter ist davon überzeugt, ihrer Schwester im Tod die Würde verliehen zu haben, die sie während ihres Lebens hat vermissen lassen.
    Auch wenn Annemi glaubt, mit Haltung und Selbstdisziplin für den Umgang mit Schicksalsschlägen gewappnet zu sein, ist sie dem plötzlichen Tod ihrer Schwiegertochter Ingrun hilf- und fassungslos ausgeliefert. Ingrun Neckermann, die Lichtgestalt, der liebenswürdigste Mensch, dem ich je begegnet bin, verunglückt im Alter von sechsunddreißig Jahren bei einem Autounfall auf der Landstraße in Frankreich tödlich. Die Familie steht unter Schock. Der 25. Oktober 1977 ist ein schwarzer Tag für alle, die Ingrun gekannt haben. Es ist das einzige Mal in Jahrzehnten, dass Annemi keinen Weihnachtsbrief schreibt. Der Tod ihrer geliebten Schwiegertochter lastet zu schwer auf ihr. Es gibt keine Worte dafür.

Dazwischen 9
    »Erinnerst du dich noch?«, rief ihr ältester Sohn, als sie zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern die geschwungene Freitreppe des »Winter Palace« in Luxor am Ufer des Nils emporstiegen und aus dem gleißenden Licht der im Zenit stehenden Sonne in das geheimnisvolle Halbdunkel der prunkvollen Eingangshalle traten. Mit den edlen Perserteppichen, den glitzernden Kronleuchtern und den goldenen Spiegeln, die das Bild der mannshohen Keramikvasen mit den kunstvollen Blumengestecken vielfach zurückgaben, erinnerte das Ambiente an den Palast des Kalifen Harun al Raschid in den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht und ihr Sohn mit seiner mächtigen Zwei-Meter-Statur an Ali Baba.
    »Erinnerst du dich?«, rief er noch einmal, und in seiner Stimme schwangen Erkennen und Überraschung mit. Beides spiegelte sich auf seinem mit über vierzig Jahren noch immer jungenhaften Gesicht wider. Erst als er seine Frage wiederholte, kam auch ihre Erinnerung zurück.
    Das, was Mutter und Sohn vor fast dreißig Jahren erlebt hatten, hatte sich wie ein Alptraum, aus dem sie gerade noch rechtzeitig erwacht war, in ihr Gedächtnis eingraviert. Nur den Ort, an dem alles begonnen hatte, erkannte sie nicht gleich wieder.
    Der ehemalige Palast König Faruks, im viktorianischen Stil um die Wende des vergangenen Jahrhunderts von den Briten inmitten eines tropischen Gartens errichtet und später in ein Luxushotel umgebaut, in dessen

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