Wie ein Stein im Geroell
zweifelsohne erweist sich die Auswanderung nach Barcelona, der Verlust der zwar kargen und entbehrungsreichen, doch so vertrauten, ja identitätsstiftenden Heimat als ein weiteres Trauma in Conxas Leben. Maria Barbal hat mit Pedra de tartera einer Welt, die es heute nicht mehrgibt, ein literarisches Denkmal setzen wollen: einer bäuerlichen Kultur, die die Bergdörfer der Pyrenäen bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts prägte. Mit großer Empathie, ja mit geradezu ethnographischer Sorgfalt läßt die Autorin diese versunkene Welt in den Erinnerungen Conxas wiederauferstehen, und es gelingt ihr ebenso, den allgegenwärtigen Rückkehrschmerz der einstigen Bäuerin nachvollziehbar zu machen, der bis zuletzt Conxas uneigentliches Leben in der nie zur Heimat gewordenen großen, anonymen Stadt bestimmt. So stellt auch hier die Geschichte, die «große» Geschichte den Resonanzboden dieser «kleinen» Geschichte dar, wie Conxa selbst einmal ihr Leben, ihre Erinnerung bezeichnet. Deren Sujet aber bleibt das verlorene, für einen kurzen Augenblick in Händen gehaltene Glück.
In mancher Hinsicht stellt sich Pedra de tartera selbstbewußt in die Tradition von La plaça del Diamant (1962), jenes wirkungsmächtigen Romans von Mercè Rodoreda, der grande dame der katalanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, und zugleich auch das zuweilen erdrückende Über-Ich der nachfolgenden Generationen weiblicher Autoren Kataloniens. So entfalten beide Romane aus der Perspektive einer vom Bürgerkrieg traumatisierten Frau eine Familiengeschichte und zugleich auch ein Sittengemälde aus dem Alltag der sogenannten kleinen Leute. Diese eingeschränkte Perspektivierung vermag es, die Innen- und Außenwelt der jeweiligen Protagonistin im Horizont ihrer eigenen Wahrnehmung, ihrer eigenen Gefühle nachvollziehbar zu machen. Beide Romane werden zudem vom Anspruch getragen, die – auch literarische – Würde eines solchen Frauenlebens zu bezeugen. Ausdruck dieser Würde ist die Nachhaltigkeit, mit der Mercè Rodoreda und Maria Barbal ihre Figuren psychologisch nuanciert haben, so etwa in der ganz unterschiedlichen Begründung ihrer Ängste, ihres Fremdbestimmtseins, ja ihrer Passivität. Aber auch die eigentümliche poetische Kraft, die beiden Lebensberichten eigen ist, erweist sich als ein Zeichen dieser Würde. Vermag es Mercè Rodoreda mit ihrer Colometa, demvolkstümlich-städtischen Katalanischen ein literarisches Denkmal zu setzen, gelingt dies Maria Barbal im Hinblick auf das Katalanisch ihrer Heimat. In beiden Fällen ist es aber nicht bloße Nachahmung, sondern literarische Schöpfung. Dabei ist Conxas Sprache die Sprache einer «bildungsfernen» Frau, eine Sprache des mündlichen und zuweilen sperrigen Ausdrucks, eine Sprache, die sich immer wieder in der Materialität der Welt ihre Bilder und Vergleiche sucht. Mitunter entstehen gar fremd anmutende Bilder, doch Bilder von großer poetischer Kraft. Man erinnere sich etwa an den titelgebenden Vergleich, mit dem Conxa so etwas wie eine Quintessenz ihres Lebens auszudrücken versucht: «Ich fühle mich wie ein Stein im Geröll. Wenn irgend jemand oder irgend etwas mich anstößt, werde ich mit den anderen fallen und herunterrollen; wenn mir aber niemand einen Stoß versetzt, werde ich einfach hierbleiben, ohne mich zu rühren, einen Tag um den anderen …»
Nie läßt uns Maria Barbal vergessen, daß es Conxa ist, die ihre Geschichte erzählt. Abstrakte Reflektion und eine allzu empfindsame Selbstbeobachtung sind ihr fremd. Sie stammt aus einer Welt, in der Gefühle selten verbalisiert werden, und obgleich sie es immer wieder versucht, ist sie nicht imstande, die Liebe, die sie für Jaume empfindet, in Worte zu fassen. Das Gefühlsvokabular gehört eben nicht zu ihrem Wortschatz. Wenn sie es dennoch versucht, dann entstehen Körperbilder von ganz eigener und ganz eigenwilliger Schönheit und Prägnanz, wie etwa diese nachgetragenen Liebeserklärungen an ihren Mann: «Wie eine Rose in all ihrer Pracht war er, als sie ihn mir entrissen, und mir blieb nur diese eine letzte Erinnerung: ein kleiner Funke in seinem Blick, ein so seltsames Lebewohl.» Denn vor allem erzählt uns Pedra de tartera eine schöne, ja eine wunderschöne Liebesgeschichte, die uns, weil sie so sehr mit dem Alltag verwoben ist, noch ergreifender, noch bewegender erscheint: die Geschichte einer Liebe, die das Leben einer Frau ganz zu erfüllen vermocht hat, die Liebe zu einem Mann, der in ihr etwas ganz
Weitere Kostenlose Bücher