Wie es Euch gefaellt, Mylady
hätte sein Schweigen gebrochen. Dann wäre sie vermutlich nicht nach Indien gegangen. Ihr Vater hätte sie gezwungen, Heath zu heiraten, und ihr geraten, das Beste aus der Sache zu machen. Sie hätte auch den englischen Soldaten nicht in den Hintern geschossen. Stattdessen hätte sie das Leben einer Dame geführt.
Alarmiert stellte sie fest, dass die beiden nicht mehr auf dem Balkon standen. Sie sah sich um und entdeckte Heath am anderen Ende des Ballsaals. Ein Blick auf sein Profil mit der kühn geschwungenen Nase und dem markanten Kinn ließ ihr Herz höher schlagen. Sie lehnte sich gegen die Säule und beobachtete ihn mit grollender Faszination. Wieso war er nicht fett geworden? Hoffentlich hatte er wenigstens ein paar Zähne verloren. Seinen Mund konnte sie nicht genau sehen. Aber sie erinnerte sich an seine geschwungenen, sinnlichen Lippen mit einer winzigen hellen Narbe am Mundwinkel, an sein betörendes Lächeln, an seine berauschenden Küsse. Nie wieder war sie einem Mann begegnet, der auch nur annähernd die atemberaubende Eleganz eines Heath Boscastle besaß. Der Mann, der sie bei einer Jagdgesellschaft beinahe verführt hatte, damals, als sie beide noch zu jung und unerfahren gewesen waren, um es besser zu wissen. Oder war es umgekehrt? Hatte sie unbeholfen versucht, ihn zu verführen? Früher hatte man sie im Freundeskreis die wilde Miss Hepworth genannt, das Teufelsweib. Heute gab man ihr schlimmere Namen. Die verruchte Lady Whitby zum Beispiel.
Sie hatte viel Zeit damit verbracht, darüber nachzudenken, was zwischen Heath und ihr vorgefallen war. Jahre wehmütiger Betrachtungen und des Bedauerns. Es gab häufig Momente, in denen sie, unbefangen wie sie war, aufrichtig bedauerte, dass sie seine hitzigen Zärtlichkeiten nicht bis zum Ende ausgekostet hatte. Allerdings war ihr erst in den Jahren ihrer einsamen Ehe klar geworden, was sie sich hatte entgehen lassen.
An jenem Nachmittag war sie verstört aus der Bibliothek geflohen, ihre Panik war alsbald einer schuldbewussten Erleichterung gewichen, dass sie voneinander gelassen hatten, bevor es zum Äußersten gekommen war oder man sie sogar ertappte.
Und später kam die Erleichterung hinzu, dass er sein Versprechen gehalten hatte, darüber niemals ein Wort zu verlieren.
Heath durchquerte den Ballsaal.
Er bewegte sich mit jener unnachahmlich lässigen Eleganz, die sie damals betört hatte und die ihr auch jetzt den Atem nahm. Hochgewachsen, breiter in den Schultern als in ihrer Erinnerung, auch ein wenig hagerer, aber umwerfend attraktiv im schwarzen Frack. Älter geworden, erfahrener, reifer, unerreichbar für ein weibliches Herz. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie ihm starr entgegenblickte. Sie hatte geglaubt, ihn nie wiederzusehen. Der Schmerz unerfüllter Gefühle weckte erneut die Frage in ihr, was hätte sein können, wenn … Und dennoch konnte sie die freudige Erwartung nicht leugnen, ihm zu begegnen, diesem unwiderstehlich gut aussehenden Schwerenöter.
Sechs Jahre, schoss es ihr durch den Sinn. Kaum zu glauben, wie viel Zeit verstrichen war. Sie war in Indien verheiratet und zur Witwe geworden. Sie hatte ein Leben kennengelernt, von dem die vornehme Londoner Gesellschaft nur staunend in der Zeitung lesen konnte.
Was hatte Heath über sie gehört?
Sie wusste, dass er sie erkannte. Erinnerte er sich an ihre stürmischen Stunden in der Bibliothek?
Sie fasste Mut und hob den Blick in seine gemeißelten Gesichtszüge. Er blieb vor ihr stehen. Die Belustigung in seinen blauen Augen beantwortete ihr beide Fragen.
Er wusste alles über sie.
Und er erinnerte sich genau, was zwischen ihnen vorgefallen war.
Im Übrigen hatte er keinen einzigen seiner strahlend weißen Zähne verloren.
Julia konnte den Blick nicht von ihm wenden, fasziniert von seiner Erscheinung, als habe sie in ihrem ganzen Leben noch nie einen schönen Mann gesehen. Allerdings war da noch ein wenig mehr. Sie teilten ein sündiges Geheimnis miteinander.
„Julia“, grüßte er mit seiner tiefen, kultivierten Stimme, die einen weiteren Schwall verschütteter Erinnerungen in ihr aufwühlte und ihrer ausgehungerten Sinnlichkeit schmeichelte. „Versteckst du dich vor mir? Hoffentlich trägst du nicht wieder eine Waffe bei dir. Oder muss ich dich durchsuchen?“
Sie musterte ihn in gespielter Ahnungslosigkeit. „Verzeihung - kennen wir uns? Wurden wir einander vorgestellt?“
Er nahm sie bei der Hand und zog sie vertraulich an sich. „Sehr witzig, wenn man bedenkt,
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