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Wie funktioniert die Welt?

Wie funktioniert die Welt?

Titel: Wie funktioniert die Welt? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Brockman , Herausgegeben von John Brockman
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Korrekturen berücksichtigt, erreicht das Volumen der grauen und weißen Gehirnsubstanz bei Frauen seinen Spitzenwert im Durchschnitt mindestens ein Jahr früher als bei Männern. Auch die Zahl der Neuronen in der Großhirnrinde ist unterschiedlich: Bei Männern sind es durchschnittlich 23  Millionen, bei Frauen 19  Millionen, eine Abweichung von 16  Prozent. Der Blick auf andere Gehirnareale zeigt ebenfalls Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Männer haben beispielsweise im Durchschnitt eine größere Amygdala (ein Gefühlsareal), bei Frauen ist das Planum temporale (ein Sprachareal) im Durchschnitt größer. Aber mit all diesem Gerede über Geschlechterunterschiede wollen wir letztlich nur eines wissen: Wie entstehen die Unterschiede? An dieser Stelle freue zumindest ich mich über einige tiefgreifende, elegante, schöne Erklärungen.
    Mein Favorit ist das fötale Testosteron: Ein paar Tropfen mehr von dieser besonderen Substanz haben offenbar in der Entwicklung von Gehirn und Geist eine »vermännlichende« Wirkung. Das Verdienst für diese einfache Idee gebührt Charles Phoenix und seinen Kollegen von der University of Kansas, die sie 1959 formulierten, [35] sowie Norman Geschwind und Albert Galaburda von der Harvard University, die sie Anfang der 1980 er Jahre wiederaufgegriffen. Dies ist nicht der einzige maskulinisierende Mechanismus (ein anderer ist das X-Chromosom), aber dieser wurde besonders elegant analysiert.
    Allerdings greifen Wissenschaftler, die sich mit den kausalen Eigenschaften des fötalen Testosterons beschäftigen, manchmal auf unethische Tierversuche zurück. Betrachten wir beispielsweise einmal einen Teil der Amygdala, der als Nucleus medialis posterodorsalis ( MEPD ) bezeichnet wird: Er ist bei männlichen Ratten größer als bei Weibchen. Kastriert man ein armes Rattenmännchen (womit man es der wichtigsten Quelle für Testosteron beraubt), sinkt das Volumen des MEPD innerhalb von nur vier Wochen auf den Wert der Weibchen ab. Man kann auch das umgekehrte Experiment anstellen und Weibchen zusätzliches Testosteron verabreichen: Dann wächst der MEPD , ebenfalls in vier Wochen, auf die Größe wie bei einer typischen männlichen Ratte heran.
    Beim Menschen suchen wir nach ethisch eher einwandfreien Methoden zur Untersuchung der Frage, wie das fötale Testosteron seine Wirkung entfaltet. Man kann die Konzentration dieses besonderen Hormons in dem Fruchtwasser messen, das den Fötus im Mutterleib umspült. In diese Amnionflüssigkeit gelangt es, weil es vom Fötus ausgeschieden wird; deshalb nimmt man an, dass es die Konzentration des Hormons in Körper und Gehirn des Ungeborenen widerspiegelt. Meine Kollegen in Cambridge und ich ermittelten auf diese Weise den Testosteronspiegel ungeborener männlicher Babys, und rund zehn Jahre später luden wir die Kinder zu einer Untersuchung mit dem MRI -Gehirnscanner ein. In einem kürzlich erschienenen Artikel im
Journal of Neuroscience
konnte unsere Arbeitsgruppe beispielsweise zeigen, dass die Menge der grauen Gehirnsubstanz im Planum temporale umso geringer ist, je mehr Testosteron die Amnionflüssigkeit enthielt. [36]
    Dies passt zu einem Befund, den wir bereits früher veröffentlicht hatten: Je mehr Testosteron in der Amnionflüssigkeit enthalten ist, desto kleiner ist der Wortschatz des Kindes im Alter von zwei Jahren. [37] Dies trägt zur Erklärung eines alten Rätsels bei: Warum lernen Mädchen früher sprechen als Jungen, und warum sind Jungen in Kliniken für Sprachentwicklungs- und Sprachstörungen überproportional stark vertreten? Die Antwort: Jungen produzieren im Mutterleib mindestens doppelt so viel Testosteron wie Mädchen.
    Ebenso trägt es zur Klärung der Frage bei, woher die individuellen Unterschiede in der Geschwindigkeit der Sprachentwicklung kommen, die für Kinder unabhängig vom Geschlecht typisch sind: Warum haben manche Kinder mit zwei Jahren bereits einen riesengroßen Wortschatz ( 600  Wörter), während andere kaum mit dem Sprechen begonnen haben? Das fötale Testosteron ist nicht der einzige Faktor, der sich auf die Sprachentwicklung auswirkt – auch soziale Einflüsse spielen eine Rolle, denn bei erstgeborenen Kindern entwickelt sich die Sprache schneller als bei späteren –, es scheint aber ein entscheidender Teil der Erklärung zu sein. Wie man außerdem nachweisen konnte, steht das fötale Testosteron in Verbindung mit einer Fülle anderer geschlechtstypischer Merkmale, von Blickkontakt bis zu

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