Wie funktioniert die Welt?
den verstorbenen britischen Philosophen Gilbert Ryle zurück, wurde aber von dem Sozialpsychologen Daryl Bem in seiner Theorie der Selbstwahrnehmung in eine feste Form gebracht. Menschen, so Bem, beobachten ihr eigenes Verhalten und ziehen daraus Schlussfolgerungen darüber, wer sie sind.
Die Theorie der Selbstwahrnehmung stellt die herkömmliche Weisheit auf den Kopf. Menschen handeln so und nicht anders, weil sie diese oder jene Charaktereigenschaften und Einstellungen haben, oder? Sie geben eine gefundene Brieftasche zurück, weil sie ehrlich sind, verwerten ihre Abfälle wieder, weil sie ein Bewusstsein für die Umwelt haben, und zahlen fünf Dollar für einen Latte Caramel brulée, weil sie gern teure Kaffeegetränke zu sich nehmen. Dass Verhalten unserer inneren Disposition entspringt, liegt auf der Hand, Bems Erkenntnis bestand jedoch in der Vermutung, dass auch das Umgekehrte gilt. Wenn wir eine gefundene Brieftasche zurückgeben, steigt unser Ehrlichkeitsmesser nach oben. Wenn wir die Wertstofftonne an den Straßenrand stellen, schließen wir daraus, dass wir tatsächlich umweltbewusst sind. Und nachdem wir den Latte gekauft waren, halten wir uns für Kaffeegenießer.
Die Theorie wurde durch Hunderte von Experimenten bestätigt; dabei zeigte sich, wann die Rückschlüsse über das eigene Ich mit der größten Wahrscheinlichkeit gezogen werden (nämlich zum Beispiel wenn Menschen glauben, es stehe ihnen frei, sich so zu verhalten, und wenn sie sich am Anfang ihrer eigenen Gefühle nicht sicher waren).
Die Theorie der Selbstwahrnehmung ist in ihrer Einfachheit elegant. Sie ist aber auch tiefgreifend, denn aus ihr ergeben sich wichtige Folgerungen für das Wesen des menschlichen Geistes. Insbesondere erwachsen aus ihr zwei folgenschwere Gedanken. Der erste lautet: Wir sind uns selbst fremd. Wenn wir wissen, was in uns vorgeht, brauchen wir doch nicht aufgrund unseres Verhaltens Vermutungen über unsere Vorlieben anzustellen, oder? Wäre unser Geist ein offenes Buch, wüssten wir genau, wie ehrlich wir sind und wie sehr wir Latte macchiato mögen. Stattdessen müssen wir oft unser eigenes Verhalten beobachten, um so herauszufinden, wer wir eigentlich sind. Die Theorie der Selbstwahrnehmung weckte also die Erwartung auf eine Revolution in der Psychologie und der Untersuchung unseres Bewusstseins – eine Revolution, die uns die Grenzen der Introspektion aufgezeigt hat.
Wie sich aber herausstellt, dient uns unser Verhalten nicht nur dazu, unsere Neigungen offenzulegen, sondern wir schließen auch auf Neigungen, die es vorher gar nicht gab. Oft wird unser Verhalten durch geringfügigen Druck aus unserer Umgebung geprägt, aber diesen Druck erkennen wir nicht. Deshalb glauben wir fälschlich, unser Verhalten müsse einer inneren Disposition entspringen. Vielleicht sind wir nicht besonders vertrauenswürdig und geben die Brieftasche nur deshalb zurück, weil wir die Menschen in unserem Umfeld beeindrucken wollen. Da wir dies aber nicht erkennen, ziehen wir den Schluss, wir seien eine ehrliche Haut. Vielleicht geben wir Abfall zum Recycling, weil die Gemeinde es uns einfach gemacht hat (indem sie uns eine Tonne gegeben hat, die jeden Dienstag geleert wird) und weil unser Ehepartner und die Nachbarn es missbilligen würden, wenn wir es nicht täten. Aber statt diese Gründe zu erkennen, nehmen wir an, wir hätten den Umweltpreis verdient. Wie sich in unzähligen Studien gezeigt hat, sind Menschen höchst empfänglich für Einflüsse aus dem sozialen Umfeld, aber sie erkennen kaum einmal das volle Ausmaß dieser Empfänglichkeit, sondern führen die Tatsache, dass sie sich fügen, auf ihre eigenen, wahren Wünsche zurück.
Wie alle guten psychologischen Erklärungen, so lässt sich auch die Theorie der Selbstwahrnehmung praktisch anwenden. Sie steckt unausgesprochen in mehreren Formen der Psychotherapie, bei denen die Klienten aufgefordert werden, zuerst ihr Verhalten zu ändern: Man nimmt an, dass dann auch Veränderungen der inneren Einstellungen folgen werden. Mit dieser Methode werden Teenagerschwangerschaften verhindert, indem Teens zu gemeinnützigen Arbeiten angehalten werden. Die ehrenamtliche Tätigkeit löst eine Veränderung ihres Selbstbildes aus: Sie fühlen sich stärker als Teil ihrer Gemeinschaft und sind weniger geneigt, sich auf risikoreiche Verhaltensweisen einzulassen. Kurz gesagt, sollten wir alle den Ratschlag von Kurt Vonnegut beherzigen: »Wir sind, was wir zu sein vorgeben, also müssen
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