Wie funktioniert die Welt?
Er ist eine Form der Redundanz und statistisch so raffiniert, dass die Wissenschaft der Menschen uns (bisher) nichts Gleichwertiges zu bieten hat.
Von Hormesis spricht man, wenn eine geringe Menge eines schädlichen Wirkstoffs oder ein Stressfaktor in der richtigen Dosierung oder mit der richtigen Intensität verabreicht wird und den Organismus auf diese Weise anregt und besser, kräftiger, gesünder macht, so dass er beim nächsten Mal eine höhere Dosis verträgt. Sie ist der Grund, warum wir ins Fitnessstudio gehen, vorübergehend fasten oder Kalorien einsparen und Herausforderungen durch Abhärtung überkompensieren. Nach den 1930 er Jahren hatte die Hormesis ein wenig an wissenschaftlichem Ansehen, Interesse und Praxis eingebüßt, unter anderem, weil manche Autoren sie fälschlich mit der Homöopathie in Verbindung brachten. Einen solchen Zusammenhang herzustellen ist unfair, denn die Mechanismen sind ganz und gar unterschiedlich. Homöopathie gründet sich auf andere Prinzipien, beispielsweise auf die Vorstellung, winzig kleine, stark verdünnte Teile der krankheitsauslösenden Agenzien (die so klein sind, dass man sie kaum wahrnehmen kann und dass sie auch keine Hormesis verursachen können) könnten als Medikament gegen die Krankheit selbst wirken. Sie hat kaum empirischen Rückhalt und gehört heute zur Alternativmedizin, während es für die Hormesis als Wirkung eine Fülle wissenschaftlicher Belege gibt.
Nun stellt sich heraus, dass Redundanz und Überkompensation der gleichen Logik unterliegen – es ist, als würde die Natur Dinge immer auf eine einfache, elegante, einheitliche Weise tun. Wenn ich beispielsweise 15 Milligramm einer giftigen Substanz zu mir nehme, wird mein Organismus kräftiger und bereitet sich auf 20 Milligramm oder mehr vor. Wenn ich meine Knochen belaste (durch Karatetraining oder indem ich Wassergefäße auf dem Kopf trage), mache ich sie bereit für größere Belastungen, weil sie immer dichter und härter werden. Ein System zur Überkompensation schießt zwangsläufig über das Ziel hinaus: Es baut zusätzliche Kapazitäten und Kräfte auf, weil es auf Grund von Informationen, dass möglicherweise eine Gefahr droht, mit Schlimmerem rechnet. Dies ist eine sehr hoch entwickelte Form der Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten auf dem Weg über Stressfaktoren. Und natürlich wird eine solche zusätzliche Kapazität oder Kraft auch deshalb nützlich, weil sie uns sogar in Abwesenheit der Gefahr gute Dienste leisten kann. Redundanz ist keine defensive, sondern eine aggressive Lebensweise.
Die Methoden des Risikomanagements in unseren Institutionen sehen leider ganz anders aus. Heute ist es üblich, in der Vergangenheit nach einem Worst-Case-Szenario zu suchen, das dann als »Stresstests« bezeichnet wird, und sich darauf einzustellen; dabei kommt man nie auf die Idee, dass es ja in der Vergangenheit eine große, bis dahin nie dagewesene Abweichung gegeben hat und dass deshalb auch diese Abweichung vielleicht unzureichend ist. So betrachten die heutigen Systeme beispielsweise die schlimmste historische Rezession, den schlimmsten Krieg, die schlimmsten historischen Schwankungen der Zinssätze, den schlimmsten Höhepunkt der Arbeitslosigkeit und so weiter und benutzen ihn als Anker für das Schlimmste, was in Zukunft geschehen kann. Viele von uns waren frustriert – sehr frustriert – über die Methoden von Stresstests, bei denen Menschen nie über bereits Dagewesenes hinausgehen und sich sogar mit dem üblichen Ausdruck einer naiven Empirie (»Haben Sie dafür Belege?«) auseinandersetzen mussten, wenn sie die Ansicht äußerten, man solle noch schlimmere Szenarien durchspielen.
Und natürlich spielen diese Systeme nicht im Geist die rekursive Übung durch, um das Offensichtliche zu erkennen: dass das schlimmste Ereignis der Vergangenheit seinerseits keinen Vorläufer ähnlicher Größenordnung hatte und dass jemand, der vor dem Ersten Weltkrieg den schlimmsten Fall der europäischen Vergangenheit betrachtet hätte, überrascht gewesen wäre. Dies habe ich als lucretianische Unterschätzung bezeichnet; der Begriff erinnert an den römischen Dichter und Philosophen, der schrieb, der Dummkopf glaube, der größte Berg müsse so groß sein wie der größte, den er gesehen hat. Danny Kahneman schrieb in Anlehnung an die Werke von Howard Kunreuther, »dass Schutzmaßnahmen von Privatpersonen oder von Staaten in der Regel auf den schwersten Katastrophenfall, der sich bislang ereignet
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