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Wie funktioniert die Welt?

Wie funktioniert die Welt?

Titel: Wie funktioniert die Welt? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Brockman , Herausgegeben von John Brockman
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Neuronen codiert wird, die zu halbzufälligen Zeitpunkten ihre Impulse abgeben: Einige Neuronen signalisieren, »ich glaube, es ist die 4 «, andere sagen, »es ist nahezu sicher die 5 « oder »es liegt in der Nähe von 3 « und so weiter. Da das Entscheidungssystem des Gehirns keine vollständigen Symbole, sondern nur unmarkierte Spikes sieht, steht es mit der Aufgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen, vor einem echten Problem.
    Wie soll man angesichts des Rauschens eine zuverlässige Entscheidung treffen? Um die mathematische Lösung für dieses Problem kümmerte sich als Erster Alan Turing, als er in Bletchley Park den Enigma-Code knackte. Turing fand in der Enigma-Maschine einen kleinen Defekt, das heißt, einige Nachrichten der Deutschen enthielten geringe Mengen an Information, aber leider war es so wenig, dass er den dahinterstehenden Code nicht mit Sicherheit entschlüsseln konnte. Ihm wurde aber klar, dass er die unabhängigen Anhaltspunkte mit Hilfe des Bayes-Gesetzes kombinieren konnte. Lassen wir die Mathematik einmal weg: Das Bayes-Gesetz bietet eine einfache Möglichkeit, alle aufeinanderfolgenden Anhaltspunkte und alle vielleicht schon vorhandenen früheren Kenntnisse zusammenzuführen und so zu einer Statistik zu gelangen, die uns Aufschlüsse über das Gesamtergebnis liefert.
    Wenn der Input mit Rauschen versetzt ist, schwankt diese Summe auf und ab, weil manche eintreffenden Nachrichten die Schlussfolgerung unterstützen, während andere nur zum Rauschen beitragen. Das Ergebnis ist eine Irrfahrt, wie die Mathematiker es nennen – eine in Abhängigkeit von der Zeit schwankende Abfolge von Zahlen. In unserem Fall jedoch haben die Zahlen eine Maßeinheit: Sie geben wieder, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Hypothese (zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass die eingegebene Zahl kleiner als 5 ist) der Wahrheit entspricht. Es ist also rational, sich als Statistiker zu verhalten und zu warten, bis die angesammelten statistischen Werte einen bestimmten Wahrscheinlichkeitswert überschreiten. Legen wir diesen Wert auf
p
= 0 , 999 fest, bedeutet das, dass wir mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 1000 Unrecht haben.
    Dabei gilt es festzuhalten, dass wir den Schwellenwert beliebig festsetzen können. Je höher er ist, desto länger müssen wir auf eine Entscheidung warten. Es besteht also ein Wechselspiel zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit: Wir können lange warten und dann eine sehr genaue, aber vorsichtige Entscheidung treffen, oder wir können früher eine Reaktion riskieren, dann aber um den Preis, Fehler zu machen. Wie wir uns auch entscheiden, ein paar Fehler werden uns immer unterlaufen.
    Hier möge der Hinweis genügen, dass der gerade skizzierte Entscheidungsalgorithmus – der einfach beschreibt, was jedes rationale Lebewesen angesichts des Rauschens tun sollte – heute als ganz allgemeiner Mechanismus für die Entscheidungsfindung durch Menschen gilt. Er erklärt unsere Reaktionszeiten, ihre Schwankungen und die gesamte Form ihrer Verteilungskurve. Er beschreibt, warum wir Fehler begehen, in welcher Beziehung die Fehler zu Reaktionszeit stehen und wie wir die Balance zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit einstellen. Er lässt sich auf alle möglichen Entscheidungen anwenden, von Alternativen in der Sinneswahrnehmung (habe ich einem Bewegung gesehen oder nicht?) über die Sprache (habe ich »Hund« oder »Mund« gehört?) bis zu Rätseln höherer Ordnung (soll ich dieses oder jenes als Erstes oder als Zweites tun?). In komplizierteren Fällen, beispielsweise wenn wir eine Berechnung mit vielen Zahlen vornehmen oder eine Reihe von Aufgaben erfüllen, beschreibt das Modell unser Verhalten als Abfolge verschiedener Schritte mit Ansammeln und Schwellenwerten, und das erweist sich als hervorragende Beschreibung unserer aufeinanderfolgenden, mühsamen Berechnungen nach Art von Turing.
    Darüber hinaus führt diese am Verhalten orientierte Beschreibung der Entscheidungsfindung heute auch in der Neurowissenschaft zu wichtigen Fortschritten. Im Affengehirn kann man aufzeichnen, wie die Impulsgeschwindigkeit von Neuronen die Ansammlung einschlägiger Sinnessignale anzeigt. Die theoretische Unterscheidung zwischen der Ansammlung von Anhaltspunkten und dem Schwellenwert hilft uns, das Gehirn in spezialisierte Untersysteme zu zerlegen, die aus entscheidungstheoretischer Sicht sinnvoll erscheinen.
    Wie bei jeder eleganten wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit, so warten auch hier noch viele

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