Wie funktioniert die Welt?
ein Geist demnach nicht aus Software aufgebaut sein kann. Ein Digitalcomputer kann nur triviale arithmetische Berechnungen anstellen und logische Anweisungen befolgen. Das können Sie auch; Sie können jede Anweisung ausführen, die auch ein Computer ausführen kann. Außerdem können Sie sich vorstellen, eine Riesenmenge trivialer Anweisungen auszuführen. Dann fragen Sie sich: »Kann ich mir vorstellen, dass ein neuer Geist entsteht, wenn ich eine Riesenmenge trivialer Anweisungen ausführe?« Nein. Oder stellen wir uns vor, wir würden ein Kartenspiel sortieren – sortieren gehört zu den Dingen, die Digitalcomputer können. Jetzt stellen wir uns vor, wir würden ein immer größeres Kartenspiel sortieren. Erkennen wir, dass an irgendeiner Stelle, wenn der Stapel nur hoch genug ist, ein Bewusstsein entsteht? Mitnichten.
Und die unvermeidliche Antwort auf den unvermeidlichen ersten Einwand: Aber Neuronen sorgen doch nur für eine einfache Signalübertragung – können Sie sich vorstellen, dass
daraus
Bewusstsein erwächst? Diese Frage ist bedeutungslos. Die Tatsache, dass eine Vielzahl von Neuronen einen Geist entstehen lässt, hat nichts mit der Frage zu tun, ob eine Riesenzahl von irgendwelchen anderen Dingen einen Geist hervorbringen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, ein Neuron zu sein, aber ich kann mir vorstellen, Maschinenanweisungen auszuführen. Daraus erwächst kein Geist, ganz gleich, wie viele solche Anweisungen ich ausführe.
Rudy Rucker
Inverse Potenzgesetze
Mathematiker, Informatiker; Cyberpunk-Pionier; Romanautor; Autor von Surfing the Gnarl
Mich fasziniert die empirische Tatsache, dass die meisten Erscheinungen unserer Welt und unserer Gesellschaft nach sogenannten inversen Potenzgesetzen verteilt sind. Das heißt, viele Verteilungskurven sinken von einem zentralen Höhepunkt ab und haben einen langen Schwanz, der sich asymptotisch an die waagerechte Achse anschmiegt.
Inverse Potenzgesetze sind von eleganter Einfachheit und zutiefst rätselhaft, aber eher ärgerlich als schön. Sie sind selbstorganisierend und selbsterhaltend. Aus nicht ganz geklärten Gründen erwachsen sie spontan aus einem breiten Spektrum gesellschaftlicher wie auch natürlicher Parallelberechnungen.
Einer der ersten Sozialwissenschaftler, dem ein inverses Potenzgesetz auffiel, war der Sprachforscher George Kingsley Zipf. Seine Beobachtung wird heute als Zipf’sches Gesetz bezeichnet. Es beschreibt die statistische Erkenntnis, dass die Häufigkeit, mit der ein bestimmtes Wort vorkommt, in den meisten Dokumenten ungefähr proportional zur reziproken Beliebtheit des Wortes ist. Das zweitbeliebteste Wort wird also halb so häufig verwendet wie das beliebteste, das zehntbeliebteste kommt mit einem Zehntel der Häufigkeit des beliebtesten vor und so weiter.
Ähnliche inverse Potenzgesetze bestimmen in der Gesellschaft auch über Belohnungen. Aus meiner Sicht als Autor ist mir beispielsweise aufgefallen, dass der Autor, der in der Beliebtheit an 100 . Stelle steht, ungefähr hundertmal weniger Bücher verkauft als der Autor auf Rang 1 . Verkauft der Top-Autor eine Million Exemplare, kommt jemand wie ich vielleicht auf 10 000 .
Missmutige Schreiberlinge schwärmen in ihrer Phantasie manchmal von einem utopischen Markt, auf dem die natürlich entstandene Verteilung nach einem inversen Potenzgesetz zwangsweise durch eine lineare Verteilung abgelöst wird – das heißt, die Verkaufszahlen liegen nicht wie jetzt auf einer gebogenen Kurve, die bei einem unverschämt hohen Spitzenwert beginnt und dann steil abfällt, um entlang der waagerechten Achse dahinzukriechen, sondern auf einer geraden Linie.
Auf welchem Weg sich die Verkaufszahlen eines Autors verändern sollten, ist aber nicht offensichtlich. Es besteht keine Hoffnung, dass irgendeine mächtige Gruppe den Versuch unternimmt, zwangsweise für eine andere Verteilung zu sorgen. Schließlich entscheiden die Menschen selbst, welche Bücher sie lesen wollen. Die Gesellschaft ist eine parallele Berechnung, und manche ihrer Aspekte entziehen sich der Kontrolle.
Besonders beunruhigend sind Aspekte der Einkommensverteilung, die inversen Potenzgesetzen unterliegen. Die zweitreichste Person in einer Gesellschaft besitzt unter Umständen halb so viel wie die reichste, das Vermögen der zehntreichsten beträgt nur ein Zehntel des größten, und – weit abgeschlagen – die Person, die in der Skala der Reichen an 1000 . Stelle steht, verdient nur 1 / 1000 dessen, was die
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