Wie funktioniert die Welt?
Person auf Platz 1 bekommt.
Formulieren wir das gleiche Phänomen einmal ein wenig krasser: Der Vorstandsvorsitzende eines Unternehmens bekommt vielleicht 100 000 000 Dollar im Jahr, ein Softwareingenieur in der gleichen Firma hat ein Gehalt von 100 000 Dollar, und ein Arbeiter in einem der Montagewerke der Firma in Übersee muss sich mit 10 000 Dollar begnügen – einem Zehntausendstel dessen, was der oberste Chef nach Hause bringt.
Potenzgesetz-Verteilungen findet man auch bei der Zahl der Zuschauer am Startwochenende eines neuen Films, bei der Zahl der Webseiten-Aufrufe und beim Publikumsinteresse für Fernsehshows. Gibt es irgendeinen besonderen Grund dafür, dass die obersten Ränge so unverhältnismäßig gut abschneiden und die unteren so unfair bestraft werden? Die kurze Antwort lautet: Nein, eigentlich gibt es keinen Grund. Es bedarf keiner Verschwörung, damit der Lohn so ungleich verteilt wird. So ärgerlich es scheint, aber Verteilungen nach inversen Potenzgesetzen sind ein grundlegendes Naturgesetz für das Verhalten von Systemen. Sie sind allgegenwärtig.
Inverse Potenzgesetze sind auch nicht auf Gesellschaften beschränkt – ebenso beherrschen sie die Statistik der Natur. Der zehntgrößte See hat wahrscheinlich ein Zehntel der Größe des größten, der Baum, der mit seiner Größe in einem Wald an 100 . Stelle steht, hat nur ein Hundertstel der Größe seines größten Artgenossen, und unter den Kieseln an einem Strand liegt derjenige, der in der Größenskala den 1000 . Platz einnimmt, im Umfang bei einem Tausendstel des dicksten Brockens.
Ob es uns gefällt oder nicht: Inverse Potenzgesetze sind so unvermeidlich wie Turbulenzen, Entropie oder das Gravitationsgesetz. Aber auch wenn wir das wissen, können wir sie in unserem gesellschaftlichen Zusammenhang ein wenig abmildern; die Behauptung, wir könnten an der Diskrepanz zwischen Reich und Arm überhaupt nichts ändern, wäre allzu sehr von Verzweiflung geprägt.
Die grundlegende, von inversen Potenzgesetzen bestimmte Form der Kurven wird aber nie verschwinden. Wenn wir wollen, können wir über ein inverses Potenzgesetz lästern – oder wir können es hinnehmen und vielleicht darauf hoffen, das harte Gesetz so zu verändern, dass die Kurve nicht allzu steil abfällt.
Samuel Arbesman
Wie der Leopard zu seinen Flecken kam
Angewandter Mathematiker; leitender Wissenschaftler der Ewing Marion Kauffman Foundation
In einer seiner berühmten
Genau-so-Geschichten
für Kinder
erzählt Rudyard Kipling, wie der Leopard zu seinen Flecken kam. Würden wir diesen Ansatz zu seinem logischen Schluss führen, bräuchten wir für das Muster jedes Tieres eine eigene Geschichte: für die Punkte des Leoparden, die Flecken der Kuh, die einheitliche Farbe des Panthers. Außerdem müssten wir weitere Geschichten für die komplexen Muster aller anderen Tiere hinzunehmen, von den Weichtieren bis zu tropischen Fischen.
In Wirklichkeit bedarf es für diese unterschiedlichen Tiere durchaus keiner eigenen, unterschiedlichen Erläuterungen; es gibt eine einzige, grundlegende Erklärung, und die zeigt, wie wir mit einer einzigen vereinheitlichten Theorie zu den verschiedenen Mustern gelangen können.
Die Geschichte beginnt 1952 : Damals veröffentlichte Alan Turing einen Artikel mit dem Titel »Die chemische Grundlage der Morphogenese«. Ab da erkannten Wissenschaftler, dass eine einfache Gruppe mathematischer Formeln über die ganz verschiedenartigen Muster und Färbungen von Tieren bestimmen kann. Das Ganze wird als Reaktionsdiffusionsmodell bezeichnet und funktioniert ganz einfach: Angenommen, wir haben mehrere Substanzen, die mit unterschiedlicher Geschwindigkeit über eine Oberfläche diffundieren und untereinander in Wechselwirkung treten können. In den meisten Fällen führt die Fusion einfach zu einer einheitlichen Verteilung einer Substanz – man denke nur daran, wie Sahne, die man in den Kaffee gießt, sich irgendwann ausbreitet, auflöst und eine Flüssigkeit mit hellerem Braunton entstehen lässt; wenn aber mehrere Chemikalien diffundieren und interagieren, kann auch eine uneinheitliche Verteilung entstehen. Dies widerspricht zwar eher der Intuition, es geschieht aber nicht nur, sondern man kann es auch mit einer Reihe einfacher Gleichungen nachvollziehen – und damit hat man die prachtvolle Vielfalt der Muster in der Tierwelt erklärt.
Seit dem Erscheinen von Turings Artikel erforschen mathematisch orientierte Biologen die Eigenschaften
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