Wie funktioniert die Welt?
Massachusetts Institute of Technology; wissenschaftlicher Leiter des Foundational Questions Institute
Was war die Ursache unseres Urknalls? Meine tiefgreifende Lieblingserklärung lautet: Unser Baby-Universum ist herangewachsen wie ein menschliches Baby – wortwörtlich. Unmittelbar nach der Empfängnis hat sich jede unserer Zellen ungefähr einmal am Tag verdoppelt, so dass die Gesamtzahl Tag für Tag anstieg: 1 , 2 , 4 , 8 , 16 und so weiter. Wiederholte Verdoppelung ist ein leistungsfähiger Prozess, und wenn unser Gewicht sich bis zur Geburt jeden Tag verdoppelt hätte, wäre es für die Mutter schwierig geworden: Nach neun Monaten (ungefähr 274 Verdoppelungen) hätte das Baby bereits mehr gewogen als sämtliche Materie in unserem beobachtbaren Universum.
Es hört sich verrückt an, aber genau das ist nach der Inflationstheorie, die von Alan Guth und anderen entwickelt wurde, mit unserem Universum tatsächlich geschehen. Anfangs war es ein Körnchen, viel kleiner und leichter als ein Atom, aber dann verdoppelte sich seine Größe immer wieder, bis es schließlich schwerer war als unser gesamtes beobachtbares Universum und sich mit atemberaubender Geschwindigkeit ausdehnte. Und es verdoppelte sich auch nicht nur täglich, sondern nahezu in jedem Augenblick. Mit anderen Worten: Die Inflation schuf unseren gewaltigen Urknall in einem winzigen Sekundenbruchteil nahezu aus dem Nichts. Wenn der menschliche Embryo einen Durchmesser von zehn Zentimetern erreicht, beschleunigt sich die Ausdehnung nicht mehr, sondern sie verlangsamt sich. Das gleiche tat den einfachsten Inflationsmodellen zufolge auch das Baby-Universum, als seine Größe bei zehn Zentimetern lag: Der exponentielle Wachstumsschub verlangsamte sich, und eine gemächlichere Ausdehnung setzte ein, so dass das Plasma verdünnt wurde und sich abkühlte, während die Teilchen, aus denen es bestand, sich allmählich zu Atomkernen, Atomen, Molekülen, Sternen und Galaxien zusammenfanden.
Die Inflation gleicht einer großen Zaubershow. Mein Bauchgefühl sagt: »Das alles kann doch nicht den Gesetzen der Physik gehorchen.« Bei genauerem Hinsehen stellt man aber fest, dass es möglich ist. Wie kann beispielsweise ein Gramm Materie während der Inflation durch Ausdehnung zu zwei Gramm werden? Masse kann doch nicht aus dem Nichts erschaffen werden? Interessanterweise eröffnete Einstein uns ein Schlupfloch in Form seiner speziellen Relativitätstheorie: Sie besagt, dass Energie
e
und Masse
m
nach der berühmten Formel
e
=
mc
2 zusammenhängen, wobei
c
die Lichtgeschwindigkeit ist. Man kann also die Masse eines Gebildes vermehren, wenn man ihm Energie zuführt. Ein Gummiband wird beispielsweise geringfügig schwerer, wenn wir es dehnen: Um es auseinanderzuziehen, müssen wir Energie aufwenden, und diese Energie bleibt im Gummiband und trägt zu seiner Masse bei. Ein Gummiband hat einen
negativen Druck
, denn wir müssen Arbeit aufwenden, um es zu dehnen. Auch die Substanz, die der Inflation unterliegt, muss einen negativen Druck haben, damit sie den Gesetzen der Physik gehorcht; außerdem muss dieser negative Druck so groß sein, dass zu ihrer Ausdehnung auf das doppelte Volumen genau so viel Energie erforderlich ist, dass sich ihre Masse verdoppelt. Bemerkenswerterweise besagt Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, dass dieser negative Druck eine negative Gravitationskraft erzeugt. Das wiederum ist die Ursache der wiederholten Verdoppelung, durch die letztlich alles, was wir beobachten können, aus nahezu nichts entsteht.
Für mich hat eine tiefgreifende Erklärung das Kennzeichen, dass sie mehr beantwortet, als man gefragt hat. Und die Inflation hat sich als das Geschenk erwiesen, das uns immer weiter beschenkt und eine Antwort nach der anderen ausspuckt. Sie erklärt, warum der Raum so flach ist, was wir mit einer Genauigkeit von ungefähr einem Prozent gemessen haben. Sie erklärt, warum unser weit entferntes Universum im Durchschnitt in alle Richtungen gleich aussieht, wobei die Schwankungen von Ort zu Ort nur 0 , 002 Prozent betragen. Sie erklärt die Ursache dieser 0 , 002 Prozent mit Quantenschwankungen, die durch die Inflation vom mikroskopischen in den makroskopischen Maßstab vergrößert wurden und sich dann durch die Gravitation so verstärkten, dass die heutigen Galaxien und die makroskopische Struktur des Kosmos entstanden. Sogar die kosmische Beschleunigung, die 2011 des Nobelpreises für Physik würdig befunden wurde, erklärt sich mit
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