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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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nunmehr »Ateliers«
genannt. unzählige Filme gedreht. Die Nazis wiederum betrieben in Adlershof geheime militärische Forschung. Als nach zwölf Jahren ihr Tausendjähriges Reich unterging, übernahmen die siegreichen Russen das Gelände. In ihrem Windschatten richteten sich dann auch Dienststellen des MfS ein.
    1952 schließlich besetzte der »Deutsche Fernsehfunk« (DFF) die Studios und begann mit streng kontrollierten Ausstrahlungen. »Das Sandmännchen«, mit dem er startete, ist heute beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) beheimatet und nach wie vor Lieblingssendung der kleinen Kinder Ost. Von Adlershof aus hetzte der kommunistische Adlige Schnitzler in seinem »Schwarzen Kanal«, verbog die »Aktuelle Kamera« die Wirklichkeit so lange, bis sie in die vom Staatlichen Presseamt gewünschte Nachrichtenlage der Nation gezwängt war, was die meisten Zuschauer im Osten mit Umschalten quittierten, um sich ihre Informationen aus dem Westfernsehen zu holen. Der Fernsehfunk, inzwischen umbenannt worden in »Fernsehsender DDR«, sendete selbstverständlich alles in Farbe wie die Konkurrenten von drüben, was aber nichts veränderte an seinen schwarz-weiß gezeichneten Berichten über das eigene Paradies der Werktätigen im Gegensatz zur Hölle, die natürlich bei den anderen existierte.
    Nur ein einziges Mal, in jenem so wunderbaren Jahr der Anarchie, zwischen November 1989 und November 1990, wurde in Adlershof wirklich gutes Fernsehen gemacht, bei traumhaften Einschaltquoten von über 90 Prozent. Das waren die zwölf Monate, in denen das Fernsehen der DDR befreit war von allen früheren Fesseln und von den Gewinnern noch nicht zur Abwicklung freigegeben worden war.
    Begonnen hatte die neue Zeit mit den Live-Übertragungen vom Fall der Mauer. Damals saß Hans-Peter Urban, technischer Direktor des Senders, Chef von 4500 Werktätigen, in seinem riesigen Büro, bei ihm seine Sekretärin sowie zwei Referenten, die man damals »Adjutanten« nannte, und meinte kühl, dies sei es nun gewesen, nunmehr werde sich die Nation aufmachen nach drüben. »Was dann in dieser Nacht passierte, waren die schönsten
Fernsehbilder, die ich in meinem Leben gesehen habe.« Selbstverständlich waren fast alle seine Leute draußen, um solche Bilder einzufangen und zu versenden.
    Vier Tage zuvor ist Urban bei einem Treffen mit Technikerkollegen in Westberlin von denen gefragt worden, wie es denn weiterginge in der DDR nach den Demonstrationen und mit den vielen Ausreisenden und was wohl aus der Mauer werden würde. Von seiner Angst, dass es blutig enden könnte wie im Sommer in Peking, hat er sie nichts merken lassen, nur einen schnellen Witz gemacht: »Die Mauer verkaufen wir an die Amerikaner, die sind so verrückt, die kaufen alles.« Als er mir das erzählt, lacht er mit dem ganzen Körper. Denn dass es mit Teilen der Mauer, Stück für Stück, tatsächlich so geschehen würde, hätte er damals nun doch nicht gedacht.
    Urban wirkt austrainiert, sprungbereit. Das liegt weniger daran, dass der heute 65-Jährige als junger Leistungssportler, Disziplin 100-Meter-Lauf, in der DDR mal nur knapp die Olympianorm verfehlt hat und sich seitdem einigermaßen fit hält, sondern eher an seiner ungebrochenen Bereitschaft, jederzeit aufzuspringen, um mal wieder Neues zu wagen. Zu seinen Charaktereigenschaften zählt, sich nicht unterkriegen und sich nichts gefallen zu lassen.
    Außer von seiner Frau. Denn als er in jener Nacht gegen drei Uhr todmüde nach Hause kam, da »saß die angezogen und geschminkt im Sessel und verlangte, los, wir müssen gleich los, ich will jetzt endlich sehen, wie es im Westen aussieht«. Sein Einspruch, er müsse doch am anderen Morgen um sieben Uhr wieder im Büro sein, ließ sie nicht gelten. Er gab nach und fuhr mit ihr rüber. »Zwei Polizisten hielten mich übrigens auf dem Weg an und erklärten mir freundlich, dass zwei Verkehrszeichen hintereinander mit der Zahl dreißig auf weißem Feld im Westen nicht etwa bedeuten würden, ab hier dürfe man sechzig fahren.«
    Wenn schon schlaflos am Steuer, statt todmüde im Bett, wenn schon fahren im Westen statt schnarchen im Osten, dann will er unbedingt möglichst nah ans Brandenburger Tor. Er schafft es. Von Westberliner Seite aus lässt er sich an der Mauer hochziehen.
Stellt sich aufrecht hin und streckt die Zunge aus Richtung Osten, etwa in die Richtung, in der seiner Erinnerung nach das Haus steht, in das er mal eingesperrt wurde. Das ist gewesen am 13. August 1961 und

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