Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Verklärung neigt, »sondern auch Denkmäler überall dort, wo
sich Revolutionäres ereignet hat.Wir brauchen zur Erinnerung an den Mut der Lebenden viele Denkmäler, so wie einst nach dem Ersten Weltkrieg in jedem kleinen Ort des Deutschen Reiches ein Kriegerdenkmal zur Erinnerung an die Toten errichtet wurde.«
Fünfzehn Minuten Fußmarsch entfernt von der Siegessäule, dem Denkmal, das an den Sieg des Kaiserreiches im Krieg gegen Frankreich 1870/71 erinnert, erlebte ich einen Entertainer, der mit Kalauern, die bei Seniorennachmittagen der katholischen Landbevölkerung Bayerns als gewagt gelten würden, jubelnden Beifall beim hier vereinten Volk erzielte. Sobald es gegen Politiker an sich ging und gegen Schwule als solche und besonders gegen einen bestimmten schwulen Politiker, sobald es also peinlich wurde, herrschte Klatschmarschstimmung im Theater wie einst in jenem Gassenhauer, den alle mitsingen könnten, wonach zu Pfingsten Bolle in Pankow seinen Jüngsten im Gewühl verlor und sich angeblich dennoch prächtig amüsierte.
Da sich außerdem im Admiralspalast, Friedrichstraße 101, wo 1946 im großen Saal die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED stattfand, Pack auf Sack reimte und Falte auf Alte, war zweideutig klar, warum dieser Abend vom Publikum als Höhepunkt seiner kulturellen Ambitionen erlebt wurde. Jeder Schuss unter die Gürtellinie ein Treffer im Gemüt.
Die in der Metropole zahlreich ansässige Unterschicht aus Ost und West vernachlässigt gern ihre Kinder, aber für Attacken gegen den Geschmack hat sie ein offenes Ohr. Auch Exarbeitsminister Norbert Blüm (West) und TV-»Tatort«-Star Peter Sodann (Ost) gründelten in diesem Biotop. Die beiden mit Rollatoren zu ihren Auftritten schlurfenden Scherzbolde füllten mit den üblichen Vorurteilen im Herbst 2007 die Säle, vorwiegend im Osten. Auch dieser Zuspruch ließe sich mit der Schieflage der Nation drüben erklären, denn das Regime der SED-Greise war im Alltag ein Regime der Spießer, und diese Spießigkeit prägte im Geiste auch ihre Untertanen. Was dem Osten bis heute aber fehlt, sind seine Bürger, die ihre Heimat verlassen und sich im Westen eine neue Existenz aufgebaut haben.
Und auch dieser Mangel bestimmt das geistige Klima. Die Tournee der alten Männer, schrieb die »Wirtschaftswoche« (West) nach der Premiere, wolle »kein Stachel im Fleisch der Herrschenden sein, sondern sich als Parasit vom Fleisch der Verlierer nähren. Deshalb steht bei Blüm und Sodann letztlich nicht der Kapitalismus auf dem Spiel, sondern mehr noch: der Verstand. Ihn wollen sie den Alten rauben.«
Dazu scheinen die Ergebnisse aus dem »Arzneimittelatlas 2007« zu passen. Menschen im Osten schlucken mehr Medikamente als Menschen im Westen, weil sie fettleibiger sind – Bauchumfang Mann West durchschnittlich 96,97 Zentimeter, Bauchumfang Mann Ost 98,27, führend bei Frauen die Thüringerin mit 87,10 Zentimetern gegenüber 83,63 der Hamburgerin – und weil drüben die Kassen einen größeren Anteil von Älteren zu versorgen haben. Das lässt sich demografisch erklären. Aus trostlosen Landstrichen jenseits der Speckgürtel um Städte wie Dresden, Leipzig, Jena, Weimar, Potsdam usw., in denen es ganz einfach keine Chance auf Arbeit gibt, ziehen die mobilen Jungen weg, während die Alten am Ort bleiben. Die Orte sterben aus, aber ihre Bewohner nicht. Erscheinungen des Alters wie Rheuma, Arthritis, Bluthochdruck werden zwar mit entsprechenden Mitteln bekämpft, denn seit 1990 gibt es im Gegensatz zu früher genügend Medikamente, nach der Abwicklung der industriellen Dreckschleudern eine gesündere Umwelt und insgesamt eine gestiegene Lebenserwartung. Dennoch ist das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, im Osten höher als im Westen. Die fünf neuen Bundesländer liegen diesbezüglich nach Untersuchungen der Berliner Universitätsklinik Charité alle vor den alten. Außer gesamtdeutsch gültigen Risikofaktoren machen die Wissenschaftler »sozioökonomische Faktoren« wie Arbeitslosigkeit und Stress dafür verantwortlich. In der Altersgruppe zwischen 45 und 74 war die Sterblichkeitsrate laut Statistik am höchsten in Sachsen-Anhalt.
Es fehlen praktische Mediziner, die offenbar lieber arbeitslos in Berlin sind als Chefarzt in Mecklenburg-Vorpommern, wo im Jahre 2020 nach Prognosen der Universität Greifswald jeder
vierte Bürger über fünfundsechzig Jahre alt sein wird, wo aber schon jetzt 97 Prozent der Praxen niedergelassener Ärzte, die in den
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