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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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die Ursachen des Unwissens in der inneren Befangenheit von Ost-Lehrern, die zu lange »Diener der Diktatur gewesen sind« und deshalb das Thema DDR in ihrem Unterricht vermeiden würden, weil es stets auch um die dunklen Flecken ihrer eigenen Biografie ginge.
    Bestätigt wird seine kurze Analyse, der nach Tisch ein langes Gespräch über Vergessen, Verdrängen, Verklären folgen wird, durch Aussagen vieler Pädagogen, die sich voller Elan aus Westberlin an Ostberliner Schulen hatten versetzen lassen, weil sie glaubten, dort nötiger gebraucht zu werden, aber schon nach wenigen Monaten frustriert zurückgekehrt waren in den aufgeklärten Westen.Von ihren Ost-Kollegen seien sie immer dann systematisch gemobbt worden, wenn sie die menschenfeindlichen Strukturen der SED-Diktatur im Unterricht behandeln wollten. Exdissident Wolf Biermann, der keinen deutschen Skandal an sich vorüberziehen lässt ohne einen bissigen Kommentar, setzt auf eine biologische Lösung, denn »die Ost-Lehrer«, erklärt der Berliner Ehrenbürger, »waren so tief in das SED-System verstrickt, dass sie Angst haben, darüber zu reden. Ein ehrlicher Unterricht geriete immer zur Selbstanklage.«
    Jammern ist langweilig. Sich wehren macht Spaß: Die Schweriner Ministerialangestellte Sabine Beck hat, ohne große Worte zu verlieren, gegen das Vergessen was Eigenes gemacht und Aufklärung mit einfachen Mitteln versucht. Zunächst war ihr Bilderbuch »In einem Land vor deiner Zeit« nur für ihren vierjährigen Sohn gedacht. Sie erfand eine simple Geschichte, um zu erklären, was früher war und heute zum Glück nicht mehr ist. Da gab es einen bösen König, der um sein Land eine Mauer baute, damit ihm nicht seine Untertanen alle wegliefen, und die wiederum
handelten nach dem auch Kindern verständlichen Prinzip der drei Affen: nichts sehen, nichts hören und vor allem nichts sagen. Als sie ihre Arbeit in einem dreitägigen Projekt für Grundschüler vorstellte, war die Zielgruppe begeistert und stellte viele Wieso-Weshalb-Warum-Fragen.
    Die Eltern waren nicht so angetan von der Idee, und manche haben reagiert, wie sie es aus dem anderen Land aus ihrer Zeit kannten: mit Verboten. Sie untersagten ihren Kindern die Teilnahme am Kurs von Sabine Beck.
    Die Autorin und ehemalige DDR-Spitzensportlerin Ines Geipel erkennt Ursachen für die »Faschisierung der Ostprovinzen«, womit sie die Gewaltbereitschaft junger Männer in den neuen Bundesländern meint, nicht nur im Versagen der für Aufklärung zuständigen Lehrer, sondern in dem, was sie als »vermauerte Gefühle« bezeichnet. So definiert sie die unbewältigte jüngste deutsche Geschichte, gespeist aus den Traumata der Großeltern und dem Schweigen der Eltern. Hans-Joachim Maaz: »Wir haben die Vergangenheit nicht verarbeitet. Damit ist das Untertanentum erneut vollzogen worden. Uns fehlt das, was im Westen als die 68er-Revolution bezeichnet wird. Es muss so etwas auch im Osten geben, eine Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, die ja im Wesentlichen die DDR getragen hat.«
    Diese von Maaz beschriebene Lage der Nation gemahnt einen aus dem Westen wie mich an die Jahre nach der Befreiung, als die unter den Nazis tätigen Lehrkräfte in den bundesdeutschen Schuldienst aufgenommen wurden, weil es kaum unbelastete Alternativen zu ihnen gab.Viele der ehemaligen Mitläufer sorgten in ihrem Unterricht systematisch dafür, dass bis zum Ende der Schulzeit die deutsche Geschichte mit der Weimarer Republik endete. Ihre eigene Rolle im Tausendjährigen Reich mussten sie uns dann nicht näher schildern. Bei den Eltern oder gar den Großeltern gab es ebenso wenig zu erfahren über die Zeit, der sie gerade noch entronnen waren. Das allgemeine Schweigen dauerte bis in die sechziger Jahre, erst dann wurde es durch die Sit-ins in den Universitäten und die Rufe auf den Straßen gebrochen.
Insofern ist ein selbstkritischer Rückblick in die westdeutsche Vergangenheit angebracht, wenn es um die Bewertung einer mangelnden Bereitschaft der Ostdeutschen geht, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.
    An eine öffentliche Diskussion erinnere ich mich, bei der auf dem Podium die bekannten Gegensätze zwischen Ost und West in freundlicher Gelassenheit benannt wurden, die unstrittig nun mal vorhanden seien und hingenommen werden müssten. Aus dem Publikum ertönte plötzlich ein Zwischenruf: »Es war eine Okkupation, es war ein Anschluss, es war keine Vereinigung.« Schweigen. Dann reagierte ich westlich arrogant: »Ihr seid doch

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