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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Ruhestand gingen, mangels Nachfolger nicht mehr besetzt werden konnten. Jürgen Bartlog, Bürgermeister der 1500-Einwohner-Gemeinde Görke im Landkreis Potsdam-Mittelmark, suchte selbst einen Nachfolger für den einzigen Allgemeinmediziner vor Ort, als der schwer erkrankte und seine Praxis aufgeben musste. Er bot Interessenten eine Kartei mit neunhundert Patienten, Fachpersonal, außerdem Praxisräume aus dem Besitz der Kommune, modernisiert und renoviert, für fünf Jahre mietfrei. Ohne Erfolg, wie er resigniert feststellte: »Die Ärzte erwarten von ihrem zukünftigen Wirkungsbereich hinter dem Haus eine Alpenlandschaft und vor dem Haus den Kurfürstendamm.«
    Mit zufälligen Erlebnissen und Begegnungen komme ich zwar weit herum im Land, jedoch nicht weit genug, um die unterschiedlichen Lagen der Nation fast zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer treffend beschreiben zu können. Ein wenig komplizierter ist es dann doch mit der deutschen Einheit und wo die wie umgesetzt wurde und wo es nichts wurde mit ihr und wer an ihr verdient hat und wer an ihr zerbricht.Wie geht’s, Deutschland? Vor Ort habe ich zu erkunden versucht, ob die Mauer in den Köpfen, als Symbol für die Beziehungskrise gern benutzt, wirklich gewachsen ist seit dem Fall der echten, die Deutschland für immer zu trennen schien. Angeblich sind nur dreizehn Prozent der Ostdeutschen zufrieden mit dem, was ihnen die Einheit beschert hat – was die Analyse von Hans-Joachim Maaz bestätigen würde -, und eine Dreiviertelmehrheit unter den Westdeutschen glaubt, es müsse endlich mal Schluss sein mit dem teuren Aufbau Ost – und auch das würde ja ins Klischee von der Mauer in den Köpfen passen.
    Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, weiß grundsätzlich mehr und vermag dies mit Zahlen zu begründen. Nachdem er seine Mitarbeiter in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Berlin und Brandenburg insgesamt fünftausend Schüler der Klassen 9 bis 11 aus Gesamtschulen
und Gymnasien befragen hatte lassen, konnte er ein »Bild der DDR bei Lehrern und Schülern« erstellen. Schroeders Untersuchung ist eine demoskopische Momentaufnahme der Lage der Nation. Er selbst fasste sie in dem Satz zusammen: »Es ist die Vorstellung eines ärmlichen, skurrilen und witzigen Landes, das aber irgendwie sozial war.«
    Ein Drittel der Befragten hielten Willy Brandt und Konrad Adenauer für DDR-Politiker und ein Viertel den Mauerstaat für eine demokratische Alternative zur Bundesrepublik, die nach Meinung von siebzig Prozent der Schüler im Prinzip nicht viel besser war als die DDR. Nur jeder dritte junge Brandenburger wusste, wann die Mauer gebaut wurde und dass dies 1961 auf Befehl der SED geschah, weil Bürger in täglich wachsender Zahl dem Staat entflohen, in dem Bürgerrechte nichts galten.
    Damit lagen die märkischen Jungdeutschen am Ende der Wissensskala, doch Altersgenossen in Nordrhein-Westfalen zeigten ebenso gewaltige Defizite, was umgekehrt die Geschichte der DDR betrifft. Bei denen kann es nicht daran liegen, dass ihre Lehrer zu den Stützen des Systems gehörten und deshalb hätten verschweigen wollen, woran sie beteiligt waren. Es interessiert sie einfach nicht. Wie fremd das andere Deutschland, das sich selbst befreite, denen im Westen nach wie vor ist, ergibt sich aus einer FORSA-Untersuchung:Vierzig Prozent der Arbeitslosen in den alten Bundesländern würden selbst dann nicht in den Osten ziehen, falls man ihnen dort einen sicheren Job anbieten sollte.
    Beide Studien erschreckten Politiker wie Journalisten gleichermaßen. Die einen wiesen darauf hin, dass die anderen an den Lücken schuld seien, je nachdem, wer jeweils vor ihnen an der Macht war, die von der CDU oder die von der SPD. Journalisten kommentierten die Dummheit des nachwachsenden Volkes, suchten ebenfalls nach Schuldigen, fanden die zwar auch in den schweigsamen Eltern der befragten Jugendlichen, aber vor allem im Versagen der für politische Bildung zuständigen Einrichtungen und Ministerien.
    Joachim Gauck, ausgebildeter Pfarrer und gebildeter Bürgerrechtler,
als Hüter aller Akten der Stasi erster Beauftragter für die bis 1989 geheimen Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes, weshalb das Amt bald vom Volk die Gauck-Behörde genannt wurde, genießt die einfachen Dinge des Lebens, in diesem Fall einen Löffel Spinat und Kartoffelbrei. Danach schiebt er seinen Teller bis zum Rand des Tisches und holt vor dem nächsten Bissen weit aus. Er sieht

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