Wie Jakob die Zeit verlor
war zu schläfrig, zu glücklich, zu zufrieden mit dem Abend, um all dem Beachtung zu schenken, und am nächsten Tag hatten beide keine Erinnerung mehr daran.
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Es ist noch nicht dunkel, als Jakob nach Hause kommt, aber der Himmel ist grau verschmiert, wie Wäsche, die zu oft gewaschen wurde. Die Luft fühlt sich dumpf und schwer an; Jakob kann den Regen des heraufziehenden Gewitters schon riechen. Der April war viel zu trocken bisher; Pflanzenpollen ballen sich zu Haufen zusammen, wehen träge durch die Straßen wie gelb gefärbte Zuckerwatte.
Er lässt den Schlüsselbund in das Körbchen neben dem Telefon fallen und sieht den Anrufbeantworter blinken.
„Kannst du dir nicht angewöhnen, das Handy direkt nach einem deiner Termine wieder einzuschalten?“ Arnes Stimme klingt verärgert, und Jakob hat sofort ein schlechtes Gewissen. „Ich kann heute Abend nicht zu Hause essen. Es gibt Probleme mit einem holländischen Kunden. Ich wollte dir Bescheid sagen, bevor du einkaufen gehst, aber du warst mobil mal wieder nicht erreichbar.“
Jakob starrt auf die Einkaufstüten, die er auf dem Küchenstuhl abgestellt hat. Nach seinem Termin bei der Therapeutin war er im Supermarkt und hat alle Zutaten für „Huhn auf mediterrane Art“ besorgt, ein Rezept aus dem Internet, das er für Arne und sich heute probekochen wollte, bevor nächste Woche Samstag Uli und Rolf zum Essen kommen. Und er hat vergessen, sein Handy einzuschalten. Es ist seine Schuld, Arne hat recht. Was soll er jetzt mit dem ganzen Zeug machen? Was soll er mit dem angebrochenen Abend anfangen? Unwillig denkt er an die vor ihm liegenden Stunden. Soll er für sich alleine kochen? Wie deprimierend. Das Huhn kann er einfrieren, den Thymian und die getrockneten Tomaten kann er im Gemüsefach des Kühlschranks lagern. Aber wo lagert er sich selber zwischen, bis Arne aus dem Büro kommt? Jakob hat sich diese Beziehung aufgebaut, um nicht länger allein zu sein – natürlich, das war nicht der einzige Grund, aber einer von mehreren –, doch in letzter Zeit hegt er den Verdacht, dass Arne froh ist über den Stress in seinem Job. Weil er dann weniger Zeit mit Jakob verbringen muss.
Automatisch knipst er das Küchenradio an, das immer auf WDR 2 eingestellt ist, den Sender seiner Jugend, auf dem er schon als Teenager in den siebziger Jahren Mal Sondocks Hitparade und die Schlagerrallye verfolgt hat. Er schaltet das Radio sofort ein, wenn er in die Wohnung kommt; eine Angewohnheit, die Arne wahnsinnig macht, weil Jakob es seiner Meinung nach nur als Geräuschkulisse missbraucht. Die Hörer von WDR 2 sind mit den Jahren älter geworden, und der Sender hat sein Programm darauf eingestellt. Heutzutage gibt Jakob vor, die Mischung aus Information und Unterhaltung zu mögen, die der Sender ausstrahlt, aber der wahre Grund ist, dass er sentimental wird, wenn er die Oldies von damals hört, die sich unter die Chartmusik mogeln.
Jakob hält inne. Um ein Haar wären ihm die Tomaten aus der Hand gefallen. Er hat noch nie darüber nachgedacht und er hat auch keine Ahnung, wieso er gerade jetzt darauf kommt: Aber wenn Marius plötzlich wieder hier wäre, wenn er plötzlich wieder vor ihm stünde, er würde sich in dieser Welt kaum noch zurechtfinden. Er wüsste nicht, was ein Handy ist, er hätte keine Ahnung von MP3-Playern, Internet, dem Euro oder Billigfliegern. Er wüsste nicht, dass die Sowjetunion nicht mehr existiert, hätte noch nie von 9/11 gehört, und dass es eine ostdeutsche Physikerin und Pfarrerstochter ins Amt des Bundeskanzlers geschafft hat, wäre ihm ziemlich schwer zu erklären. Der Gedanke ist traurig und komisch zugleich und Jakob weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll.
Mechanisch räumt er die Lebensmittel weg, hört mit halbem Ohr einen Bericht über eine drohende Hungerkatastrophe irgendwo in Afrika. Als anschließend ein Spendenaufruf ausgestrahlt wird, zückt er sein Smartphone, sucht die Website der zuständigen Wohltätigkeitsorganisation und überweist zehn Euro. Er tut das immer, seit mehr als zwanzig Jahren. Wenn irgendwo auf der Welt Menschen unverschuldet in Not geraten, hat er das Bedürfnis zu helfen und spendet einen kleinen Geldbetrag. Es ist ein Automatismus, ein Zwang. Arne schüttelt darüber nur den Kopf und sagt, dass Jakob nicht die ganze Welt retten kann. Jakob hat darauf keine Antwort und muss dem nackten Realismus seines Freundes unwillig recht geben. Trotzdem spendet er weiter, heimlich, trotzig. Er klammert sich an die
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