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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Frühstück auf ihrem Balkon saßen, Arne die Zeitung las und Jakob sich unbeobachtet glaubte, während er den Möwen zusah, die mit weit gespannten Flügeln gemächlich in der Luft trieben, hörte er ihn flüstern: „Ich hätte nicht herkommen dürfen. Es war ein Fehler.“ Als hielte er Zwiesprache mit einem Dritten, einem Unsichtbaren.
    Am letzten Tag des Urlaubs unternahmen sie einen Spaziergang von Westerland Richtung Norden. Es war zu kalt, um an den Strand zu gehen, in der Nacht hatte es ein paar Regenschauer gegeben, und wieder zerrte ein böiger Wind an ihren Jacken, während sie durch die Dünen stapften. Versteckt zwischen Heidekraut und Heckenrosen tauchte irgendwann eine Familienpension auf, ein zweistöckiges Haus mit Spitzgiebel, grün getünchten Holzbalkonen und Liegestühlen in einem schmalen, abgezäunten Garten. Zwei Kinder spielten vor dem Haus. Jakob blieb wie angewurzelt stehen und sein Gesicht hatte jedwede Farbe verloren.
    „Was ist?“, fragte Arne. Im ersten Moment dachte er, Jakob hätte sich den Magen verdorben, weil er sich plötzlich krümmte und mit schmerzverzerrter Miene in die Hocke ging. Dann sah er die Tränen in Jakobs Augen.
    „Das Haus. Hier haben wir gewohnt. Ich hatte ganz vergessen, wie es aussieht.“
    „Wer wir?“
    „Marius und ich.“
    „Du und Marius, ihr wart auf Sylt?“
    Jakob nickte fast unmerklich. „1989. Drei Monate, bevor …“ Er brach ab.
    „Aber warum hast du das nicht gesagt?“ Arne ging ebenfalls in die Hocke und hielt Jakob fest. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du schlechte Erinnerungen an diesen Ort hast?“
    Jakob schwieg.
    „Und die Toskana … da warst du auch mit Marius?“
    Jakob nickte wieder, noch immer stumm. „Es sind keine schlechten Erinnerungen“, sagte er schließlich. „Sie sind nur … unendlich traurig.“ Er deutete zum Haus auf ein kleines Fenster direkt unter dem Dach. „Da oben, da war unser Zimmer. Marius … er hatte Probleme beim Treppensteigen, er konnte keine längeren Spaziergänge machen, war schon nach der kleinsten Anstrengung außer Atem.“ Ein kurzes Lächeln, in dem Arne so etwas wie Sehnsucht zu entdecken glaubte, huschte über seine Lippen. „Selbst zum Ficken hat es manchmal nicht mehr gereicht.“ Dann wurde er wieder ernst, und seine Stimme klang bitter und hart. „Seine Lunge war voller Kaposi-Sarkome. Aber das wussten wir damals noch nicht.“
    Arne fühlte sich hilflos, ohnmächtig. Ausgeschlossen. „Es tut mir leid“, erwiderte er. „Du hättest etwas sagen sollen.“ Nichts in seiner Vergangenheit war mit dem vergleichbar, was Jakob erlebt hatte. Wie konnte er der Trauer, die dieser Mann empfand, jemals gerecht werden? Gab es irgendetwas, das er ihr entgegensetzen konnte? „Vielleicht ist es besser, wenn du nächstes Mal den Urlaubsort aussuchst. Einen Ort, der nicht von Geistern heimgesucht wird. Es wird ja irgendwo auf der Welt einen Platz geben, an dem ihr nicht wart.“
    Er stand auf und ging ein paar Schritte voraus, bis Jakob sich gesammelt hatte. Doch in Wahrheit war er es, der sich sammeln, der seine wirren Gefühle ordnen musste: Wie konnte er wütend auf einen Toten sein?

    Nachts um zwei Uhr hat er die Hoffnung auf Schlaf endgültig aufgegeben. Durstig macht er sich auf die Suche nach einem Glas Wasser, aber im Dunkeln findet sich Arne in der fremden Küche nicht zurecht. Er stößt sich den Zeh an einer Kante und flucht mit unterdrückter Stimme. Kurz darauf geht die Schlafzimmertür auf, und Katrin kommt heraus. Ihre Haare sind zerzaust, und sie trägt einen weißen Bademantel.
    „Kannst du nicht schlafen?“
    „Tut mir leid, ich wollte niemanden aufwecken.“
    Katrin zuckt mit den Schultern. „Jochen schläft immer wie ein Stein. Der würde noch nicht einmal wach werden, wenn ich eine Handgranate neben dem Bett hochgehen ließe. Kakao?“
    „Was?“
    „Ein heißer Kakao wirkt Wunder bei Schlaflosigkeit. Irgendeine Aminosäure, die in der Milch enthalten ist, fördert das Einschlafen, glaube ich.“ Ohne Arnes Antwort abzuwarten, macht sie sich am Herd zu schaffen, gießt Milch in einen Topf, holt zwei Becher aus dem Schrank und schüttet Kakaopulver hinein. Ihre Bewegungen sind von schlafwandlerischer Sicherheit, als hätte sie schon öfter zu diesem Hausmittel gegriffen.
    Mit den dampfenden Tassen in der Hand gehen sie auf die Terrasse. Der Föhn hat alle Wolken vertrieben, die Luft ist so warm wie das Wasser eines tropischen Meeres. Im Garten zirpen die Grillen,

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