Wie Jakob die Zeit verlor
wieso er? Wieso Marius und er? Was hatten sie anderes getan, als sich endlich frei zu fühlen und ihrem Verlangen nachzugeben? Was hatten sie anderes getan, als ihrer Lust zu folgen, ein Vermächtnis – nein, ein Recht! –, das die Generation vor ihnen für sie erkämpft hatte? Wie konnte es sein, dass dieses Erbe vergiftet war? Und dann weinte er, weil in ihm plötzlich die Ahnung erwachte, was er verschenkt hatte; er sah die Jahre, die ihm zugestanden hätten, sah, wie sie sich vor seinen Augen in Nichts auflösten – wie trockener, sandiger Mörtel, der einer unbarmherzigen Sonne nichts mehr entgegenzusetzen hat, zu Staub zerfällt und mit dem Wind davongetragen wird.
„Wir waren so dumm“, flüsterte er.
Auch bei Katrin flossen die Tränen, bis Jakob sie plötzlich von sich stieß und zwei Schritte zurückging und panisch „Nicht!“ sagte. „Wir müssen aufpassen. Es … es wird doch durch Körperflüssigkeiten übertragen. Wenn du mit meinen Tränen in Berührung kommst …“
Reflexartig wischte sie ihre Hände an der Hose ab und sah, wie Marius sie mit einem bitteren Lächeln beobachtete. Um dem entstandenen Eindruck entgegenzuwirken, ging sie entschlossen auf ihn zu und umarmte ihn. „Es war keine Absicht“, sagte sie. „Es tut mir leid. Ich habe einfach keine Ahnung von Aids. Aber wieso … ich meine, woher habt ihr es?“
Jakob zuckte mit den Schultern und ließ sich seufzend auf einen Küchenstuhl fallen. „Du weißt doch, dass wir beide keine Verfechter von Treue sind“, versuchte er müde zu erklären. „Und wie wir es uns geholt haben, ist doch letztendlich egal.“
„Aber …“ Für Katrin war es schwierig, diese Einstellung nachzuvollziehen. „Wer euch das angetan hat …“
„Angetan? Quatsch. Dazu gehören immer zwei“, winkte Marius ab. „Es macht nicht sonderlich viel Sinn, jemand anderem die Schuld in die Schuhe zu schieben, oder? Einer von uns beiden hat es sich geholt und dann unwissentlich den anderen angesteckt. Wer wen wie infiziert hat, spielt doch keine Rolle.“
„Nein?“, fragte Katrin.
„Nein.“ Jakob sah Marius mit noch immer feuchten Augen an. „Wenn ich es von dir habe … irgendwie ist das sogar ein tröstliches Gefühl.“ Seine Lippen begannen zu zittern. „Weil … dann habe ich ein Stück von dir in mir. Für den Rest meines Lebens.“
„Das ist … krank!“, erwiderte Katrin, aber Marius kam Jakob zu Hilfe.
„Ach ja? Weißt du, was wirklich krank ist?“, fuhr er Katrin wütend an. „Heteros produzieren Kinder, wenn sie sich paaren, aber Schwule kriegen ein tödliches Virus. Und alle nennen es die ‚schwule Lustseuche‘, weil sie glauben, es geht sie nichts an. Das ist krank!“
„Ich hab nie irgendwas von einer schwulen …“
„Aufhören!“, ging Jakob dazwischen, und Katrin und Marius hielten erschrocken inne. „Das bringt doch nichts. Wenn ihr beide euch jetzt auch noch an die Gurgel geht, dann …“ Erneut liefen ihm Tränen die Wangen hinunter. Er räusperte sich verärgert und putzte sich die Nase. „Tut mir leid. Ich habe noch nie so viel geheult wie in den letzten Wochen. Es ist wirklich furchtbar. Beim geringsten Anlass breche ich in Tränen aus, als ob ich zu einem lebenden Springbrunnen mutiert wäre.“ Für einen Moment hellte ein wässriges Lächeln sein Gesicht auf. Sarkasmus und Ironie erschienen ihm mehr und mehr ein probates Mittel, um auf die Krise zu reagieren. Es gab nichts mehr, was sie zu verlieren hatten. Warum nicht darüber lachen?
„Aber was werdet ihr jetzt tun?“ Katrin hangelte nach einer Zigarette. Das Nikotin rauschte in ihre Lungen und vermittelte ihr ein beruhigendes Gefühl.
Marius schüttelte fast unmerklich den Kopf. „Wir werden uns noch ein paar schöne Jahre machen, irgendwie.“
„O Gott“, flüsterte Katrin entsetzt und verbarg das Gesicht in den Händen. „Es muss doch irgendetwas geben, was ihr tun könnt!“
„Aids ist unheilbar. Und es ist tödlich“, antwortete Marius, und Jakob meinte hinter der Verzweiflung in seiner Stimme eine merkwürdige Befriedigung herauszuhören.
„Sag das nicht!“, erwiderte er aufgebracht. „Das kannst du nicht wissen.“
„Ach nein? Und was ist mit denen, die schon gestorben sind? Natürlich ist es tödlich! Hör auf, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen! Sie sterben wie die Fliegen um uns herum, und niemand – niemand! – kann etwas dagegen tun! Uns wird es genauso ergehen.“
„Du willst überhaupt nicht
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