Wie Jakob die Zeit verlor
denen es häufig zu falschen Ergebnissen kam. Etwa zur gleichen Zeit veröffentlicht die WHO einen Bericht, wonach es bisher weltweit etwa 50.000 Aids-Tote und weitere 50.000 schwer an Aids Erkrankte gibt. Experten halten diese Zahlen für untertrieben, da für Afrika, Asien und Osteuropa keinerlei verlässliche Zahlen zur Verfügung stehen.
In Großbritannien eröffnet Prinzessin Diana am 9. April die erste auf HIV spezialisierte Krankenhausabteilung, das London Lighthouse. Insbesondere die Tatsache, dass Diana Aids-Patienten die Hand gibt, ohne Handschuhe zu tragen, erregt Aufmerksamkeit – obwohl die Übertragungswege von HIV längst bekannt sind.
Nach Jahren des Schweigens spricht sich Präsident Ronald Reagan in den USA erstmals vorsichtig für ein größeres Engagement des Staates bei der Aufklärung über Aids aus, allerdings mit der Einschränkung, dass Schülern auch sexuelle Abstinenz als probates Mittel einer Infektionsvermeidung nahegelegt wird. Gemäß seinem Weltbild empfiehlt er auch eheliche Treue als wirksamen Schutz vor Aids. Wenig später befürwortet er regelmäßige und verpflichtende Tests bei Risikogruppen.
Tatsächlich ist die Aids-Politik der Reagan-Administration alles andere als eindeutig. Im Juli 1987 ist eine Kommission ins Leben gerufen worden, die den Präsidenten in Aids-Fragen beraten soll. Alle Mitglieder sind erzkonservativ (wie zum Beispiel der Kardinal von New York, John Joseph O’Connor, der schon mehrmals mit antischwulen Äußerungen an die Öffentlichkeit getreten ist), und keines der Mitglieder ist ein ausgewiesener Aids-Experte. Andererseits hat der Surgeon General, eine Art oberster Berater des Präsidenten in Gesundheitsfragen, im Februar 1987 einen ausgesprochen progressiven Aids-Präventionsbericht verfasst, der neben Monogamie auch Aufklärungsunterricht in den Schulen fordert und den Gebrauch von Kondomen befürwortet.
An der Spitze der deutschen Charts stehen Mel & Kim mit „Respectable“, in Großbritannien ist es Madonna mit „La Isla Bonita“.
Marius fuhr im Schritttempo die Straße entlang, auf der Suche nach einem Parkplatz. Die ersten Apriltage hatten mit kühlem, regnerischem Wetter Einzug gehalten, eine dichte Wolkendecke aus eintönigem Grau trübte den Nachmittag. Beide, Jakob und Marius, waren schweigsam. Die Stille im Wagen wurde nur unterbrochen vom rhythmischen Schaben der Scheibenwischer, dem Prasseln der Regentropfen auf die Windschutzscheibe.
„Bist du sicher?“, fragte er, als er den BMW in eine Parklücke direkt vor Katrins Wohnung setzte. Sein Gesicht wirkte schmal, verhärmt.
Jakob nickte. „Ich kann das nicht in mir vergraben. Ich muss jemanden haben, mit dem ich darüber reden kann. Sonst wird es größer und größer wie ein Geschwür.“
„Du kannst mit mir darüber reden!“
„Ich meinte einen Außenstehenden.“ Jemanden, der nicht vom Schlimmsten ausging, wollte er hinzufügen, jemanden, der sich nicht von vornherein geschlagen gab, doch er schluckte die Worte hinunter.
Schon als Jakob und Marius die Treppe hochkamen, den feuchten Straßenschmutz unter ihren Schuhen im Hausflur verteilend, empfing Katrin sie mit gerunzelter Stirn und einem besorgten Gesichtsausdruck. Am Abend zuvor, als Jakob gleich nach ihrer Rückkehr aus Schottland anrief, hatte sie übersprudelnd vor Freude erst nichts bemerkt von seiner gedrückten Stimmung, hatte von Edinburgh erzählt, den Freunden, die sie dort gefunden hatte, dem fast unverständlichen schottischen Akzent, dem Mann, mit dem sie unerwartet eine stürmische Affäre gehabt hatte. Jakob hatte schweigend zugehört, einsilbige Kommentare abgegeben, bis auch sie endlich aufmerksam wurde.
„Ich muss mit dir reden“, hatte er schließlich gesagt. „Wir müssen das. Marius und ich. Können wir morgen auf einen Kaffee vorbeikommen?“
„Ich hab sogar Kuchen“, sagte Katrin jetzt unsicher zur Begrüßung. Im Flur standen noch unausgepackte Taschen, ein Karton mit englischen Büchern, daneben lag ein Haufen Schmutzwäsche. „Ich war gestern Morgen kurz bei meiner Mutter, sie hat mir einen halben Frankfurter Kranz …“ Sie starrte in Jakobs Augen, die abgeschlagen und entmutigt ihrem Blick auswichen. „Jetzt sagt schon, was los ist!“
Jakob schluckte. „Wir … wir sind positiv“, brachte er heraus. „Wir haben uns infiziert.“ Plötzlich lag er heulend in Katrins Armen. Es war, als durchlebte er den Schock ein zweites Mal. Er wollte aufbegehren gegen die Ungerechtigkeit –
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