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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Selbst durch den Stoff der Jeans spürte er das Zittern seines Körpers.
    „Es ist die einzige Chance, die wir haben“, sagte er leise. „Bitte, geh weiter zum Arzt. Ich komme auch mit. Du musst da nicht alleine hin.“
    Marius kramte ein Taschentuch aus der Hose und fuhr sich damit über die Augen. Er war der Einzige, den Jakob kannte, der tatsächlich noch Stofftaschentücher benutzte, eine merkwürdig altmodische Angewohnheit, wie das Schnupfen von Tabak oder das Tragen von langen Unterhosen. Jakob hatte zwar nie gefragt, aber er war sicher, dass seine Mutter die Taschentücher für ihn bügelte.
    Marius schüttelte den Kopf. „Ich geh zugrunde, wenn ich da regelmäßig hinmuss“, erwiderte er.
    Jakob lag es auf der Zunge zu sagen, dass er zugrunde gehen würde, wenn er nicht hinginge, wenn er sich nicht regelmäßig kontrollieren ließe, aber er schrak vor den Worten zurück, schob sie beiseite, verbot sich diesen Gedanken. „Lass uns irgendwo einen Kaffee trinken“, sagte er. „Ich muss dieses Krankenhaus vergessen.“

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    Föhn hat sich in den Abendstunden über das Voralpenland geworfen; wie ein feindliches Heer hat er die Gegend, in der Katrin lebt, aus dem Hinterhalt kommend überwältigt. Arne liegt wach auf seinem Bett und hört den stetig blasenden Wind an den Fensterläden rütteln. Die Decke hat er zur Seite gelegt, das Laken haftet klamm an seinem Körper. Er ist von dem Wetterwechsel überrascht worden; sein Kreislauf macht ihm Probleme, und er ist zu erschöpft, um schlafen zu können. Der Wind erinnert ihn an seinen ersten Urlaub mit Jakob – so viel Zeit ist seitdem vergangen, dass er noch nicht einmal mehr die Jahreszahl benennen kann. Es war das erste Mal, dass Arne ein Stück von Jakobs zerborstener Seele zu sehen bekam.
    Voller Enthusiasmus hatte Arne Italien vorgeschlagen. Jakob und er kannten sich noch nicht lange – einige Monate vielleicht? –, und die Ferien sollten etwas Besonderes werden. Als Schüler hatte er eine Interrailtour durch Italien gemacht und sich in die hügelige Landschaft der Toskana verliebt, mit ihren Olivenbäumen und Pinien, den Zypressen und Weinreben. Städte wie Siena, Pisa oder Lucca hätte er gerne noch einmal besucht; in Florenz hatte er die italienische Renaissance schätzen gelernt: den David von Michelangelo, die Uffizien. Den malerischen Ponte Vecchio. Vor allem aber waren dem damals siebzehnjährigen Arne die italienischen Männer in Erinnerung geblieben: ihre dunklen Dreitagebärte, die heimlichen Blicke und das unvermittelte Zungenschnalzen, von dem er kaum glauben konnte, dass es ihm galt und das ihm schlaflose Nächte bereitet hatte.
    Aber Jakob hatte sich quergestellt, hatte abfällige Bemerkungen über die Italiener gemacht, Essens- und Klimaunverträglichkeiten angeführt. Arne war naiv – und verliebt – genug gewesen, um diese Behauptungen nicht zu hinterfragen. Erst im Nachhinein machte er sich Gedanken darüber, wieso sich Jakob zu Hause noch nie darüber beschwert hatte, wenn es Pizza oder Pasta gab oder der Sommer dem Rheinland ein paar heiße, trockene Tage bescherte. Also hatte er ein alternatives Reiseziel ins Spiel gebracht: Sylt. Hier konnte Jakob Teiggerichten aus dem Weg gehen, und heiße Sonnentage waren an der Küste erträglicher und im Allgemeinen auf ein Minimum reduziert. Sie waren knapp mit der Zeit und mussten sich schnell entscheiden, daher hatte er gebucht – und den erneuten Protest Jakobs ignoriert, hatte ihn nicht wirklich ernst genommen. Es war schwierig genug gewesen, zehn Tage zu finden, an denen sie sich beide frei machen konnten, und er, Arne, hatte den Urlaub nötig. Dringend.
    Jakob war verstummt, sobald sie mit dem Autoreisezug über den Hindenburgdamm rollten. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte Arne den Ausdruck in seinen Augen als Furcht bezeichnet. Nichts, was er sagte, konnte Jakob aufmuntern oder ihm mehr als ein karges Ja oder Nein entlocken. Die Strandkörbe, die Gischt der unruhigen See, die steife Meeresbrise, die den Sand in den Dünen vor sich hertrieb – nichts davon zauberte ein Lächeln auf Jakobs Lippen, stattdessen wurde er mit jedem Tag stiller und mehr in sich gekehrt. Im Bett drehte er Arne den Rücken zu und stellte sich schlafend, aber im Halbdunkel der Vollmondnacht konnte Arne Jakobs geöffnete Augen im Spiegel des Schlafzimmerschrankes erkennen, und wenn er ihn berührte, fühlte er seine verkrampften Muskeln. Er schien unerreichbar, unfassbar. Einmal, als sie beim

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