Wie Jakob die Zeit verlor
positiven Testergebnis waren sie von ihrem Hausarzt hierhin überwiesen worden. „Ich habe nicht die Möglichkeiten, Ihnen zu helfen, Herr Brenner. Ich kenne mich auf dem Gebiet nicht aus und, um ehrlich zu sein, ich möchte es auch nicht. Wenn sich herumspricht, dass einige meiner Patienten …“ Er hatte betreten aus dem Fenster gesehen. Die offensichtliche Abneigung des Arztes, die Angst um den Verlust anderer Klientel, wenn er ihn weiter behandelte, hatten Jakobs Protest in seiner Kehle ersticken lassen.
Hin und wieder öffnete sich die Tür, ein bärtiger Pfleger streckte den Kopf heraus und bat den Nächsten einzutreten. Die Minuten vergingen, als wären sie zu doppelter Länge aufgebläht. Jakob beobachtete, wie acht Uhr verstrich, halb neun, neun. Bald gab es nicht mehr genug Stühle. Aus den Augenwinkeln warf er hastige Blicke auf die anderen Patienten, suchte sie nach sichtbaren Zeichen der Krankheit ab und bemerkte erschrocken, dass sie ihn und Marius genauso verstohlen musterten. Er wollte schreien, und seine Hände ballten sich unbewusst zu Fäusten, bis er sie unter seinen Oberschenkeln vergrub, damit er nicht hochschnellte und seinem Zorn nachgab, die Bilder von den Wänden riss.
„Ich hasse es hier“, murmelte Marius.
Jakob versuchte, ihre Anspannung durch einen Witz abzumildern. „Das Krankenhaus sollte im Spartacus als Cruising Area aufgeführt werden“, raunte er ihm zu, aber Marius reagierte nicht, tat so, als hätte er nicht gehört.
Die Ambulanz bestand aus einem großen Raum mit weißen Wänden, die den Angstschweiß der Patienten ausdünsteten, und einem grauen Linoleumboden, auf dem die Gesundheitsschuhe des Pflegepersonals und der Ärzte geschäftig quietschten. Vor eine Wand war ein Schreibtisch geschoben worden, daneben stand ein Regal mit Schubladen voller Spritzen, Kanülen, Pflastern und Verbandsmaterial. Vor den schmutzigen Fenstern, die die trübe Frühlingssonne in einen gelbbraunen Pfannkuchen verwandelten, befanden sich drei Liegen, voneinander getrennt durch weiße Vorhänge, die bei Bedarf zugezogen wurden: ein lächerliches Minimum an Privatsphäre. Jakob wusste genau, wer sich nebenan befand, und er konnte der Unterhaltung des Arztes mit dem Patienten Wort für Wort folgen. Der Vorhang bewegte sich, als das Gespräch vorüber war und der Arzt sich ihm zuwandte. Das Schild an seinem weißen Kittel wies ihn als Dr. Schmidt aus.
„Ich will Ihnen nichts vormachen. Wir wissen noch nicht viel über HIV-Infektionen. Letztendlich sind Sie so eine Art Versuchskaninchen.“ Er wirkte überarbeitet und lethargisch, als hätten seine Augen zu viel Hoffnungslosigkeit gesehen, aber immerhin hielt er ein knappes Lächeln für Jakob bereit, während er den Laborbericht mit den Ergebnissen seiner Blutuntersuchung überflog. „487. Das ist die Zahl, die Sie sich merken müssen. Sie bezeichnet die Anzahl Ihrer T-4-Helferzellen in einer bestimmten Menge Ihres Blutes. Die Helferzellen sind die Polizei Ihrer Immunabwehr, sie bekämpfen Infektionen. Je mehr Sie davon haben, desto besser. Das Dumme ist nur, dass das HI-Virus genau diese Zellen angreift und zerstört.“
„Und wie viel hat ein gesunder Mensch normalerweise?“
„Unterschiedlich. Zwischen 600 und 1000, manchmal bis 1500. Das ist ein guter Richtwert.“
Jakob schluckte. „Weniger als die Hälfte …“
„Es ist gut, dass Ihre Infektion relativ frisch ist. Damit erhöhen sich Ihre Chancen …“ Der Arzt schien es für besser zu halten, den Rest des Satzes unausgesprochen zu lassen. „Wie haben Sie das überhaupt geschafft?“, platzte er stattdessen plötzlich heraus.
„Was geschafft?“
„Ihrer Akte entnehme ich, dass Sie im Oktober noch einen Test mit negativem Ergebnis hatten. Und drei Monate später … Sie waren doch gewarnt!“
Jakob fühlte eine Mischung aus Zorn und Scham in sich hochsteigen. Wer war dieser Mensch, sich moralisch über ihn zu entrüsten? Und gleichzeitig musste er ihm recht geben. Wieder und wieder hatte sich Jakob in den letzten Wochen die gleiche Frage gestellt. Und die beste Antwort, die er gefunden hatte, war: „Es ist einfach passiert.“
Der Arzt räusperte sich, ließ ihn sein fehlendes Verständnis spüren und kam zum eigentlichen Thema zurück. „Kritisch wird es, wenn die Zahl der Helferzellen sinkt. Dann erhöht sich das Risiko HIV-assoziierter Erkrankungen. Unter 300 treten vermehrt Herpes- oder Pilzinfektionen und Nachtschweiß auf, unter 200 besteht das Risiko einer
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