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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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pneumocystis carinii, einer speziellen Form der Lungenentzündung. Die gute Nachricht ist, dass wir gegen all diese Begleiterscheinungen Medikamente einsetzen können, prophylaktisch oder therapeutisch. Die schlechte ist, dass es noch kein Medikament gegen eine HIV-Infektion gibt. Aber das wissen Sie ja sicherlich.“
    „Aber es muss doch irgendetwas geben, was Sie tun können. Was ich tun kann.“ So also fühlte man sich, wenn man in einem brennenden Haus saß, ohne Fluchtweg, ohne Feuerlöscher, während die Flammen immer näher kamen. Ohnmächtig, panisch. Und wütend. Als wäre man von jemandem betrogen, hinters Licht geführt worden. Als hätte jemand seinen Teil der Abmachung nicht eingehalten.
    „Ja. Natürlich.“ Der Arzt schaute ihn über den Rand seiner Brille hinweg an. „Leben Sie gesund. Schlafen Sie ausreichend. Und kommen Sie alle drei Monate zu einer Blutkontrolle.“ Er drehte sich zum Gehen, aber der Ausdruck in Jakobs Gesicht schien ihn zu bewegen, noch ein paar Worte der Beruhigung hinterherzuschieben. „In den Vereinigten Staaten gibt es Studien über einen ersten Wirkstoff namens AZT, die halbwegs vielversprechend klingen. Wir stehen kurz vor der Zulassung in Deutschland.“
    „Das heißt, dann kann ich … geheilt werden?“ Jakob konnte den bettelnden Tonfall in seiner Stimme nicht unterdrücken. Vielleicht war ja alles doch nicht so schlimm.
    „Geheilt?“ Der Arzt lachte humorlos auf. „Das werden Sie und ich wohl kaum erleben. Im besten Fall ist AZT in der Lage, den Verlauf der Erkrankung zu verzögern. Und es kann mit massiven Nebenwirkungen einhergehen. Das ist das Beste, was ich Ihnen zurzeit sagen kann. Und wenn ich Ihnen noch einen Tipp geben darf: Versuchen Sie, so viel Alltag wie möglich in Ihr Leben zu integrieren. Eine geregelte Tagesstruktur. Machen Sie das, was Sie immer machen. Es wird Ihnen helfen.“
    Jakob wartete im Gang, bis Marius aus der Ambulanz herauskam. Sein Freund sah bleich aus, aber er zwang ein schmales Lächeln auf seine Lippen, als er Jakob sah.
    „Und? Was haben die gesagt?“ Sie verließen die Station so schnell wie möglich, jeder Meter Entfernung ließ die Erleichterung spürbarer werden. Als sie allein im Fahrstuhl zum Ausgang fuhren, lehnte sich Marius an die kühle Metallwand der Kabine und schloss die Augen. „Ich geh da nie wieder hin“, brachte er heraus. „Nie wieder.“
    „Aber …“
    „Ich kann das nicht! Hörst du, Jakob? Ich kann das nicht!“
    „Ist irgendwas passiert? Wie sind deine Werte?“
    „Um die 400, glaube ich. Ich hab nicht genau zugehört.“ Marius mied den Blickkontakt mit Jakob und starrte auf die Leiste, die die vorbeirauschenden Etagen zählte.
    „Du hast nicht genau zugehört?“, fragte Jakob entgeistert. „Was soll denn das heißen? Das ist wichtig!“
    „Wieso?“, fuhr ihn Marius an. „Wieso ist das wichtig? Sie können sowieso nichts für uns tun! Sie verwalten uns nur! Hast du das Mitleid in ihren Gesichtern nicht gesehen? Das Bedauern? Ich werde mich da nicht noch einmal hinsetzen.“
    „Natürlich können sie uns helfen. Der Arzt hat mir was von AZT erzählt, einem Medikament, das …“
    „… massive Nebenwirkungen hat. Erbrechen, Übelkeit, Fieber, Blutarmut, Durchfälle, Bauchspeicheldrüsenentzündung, Hautausschläge, Atembeschwerden, Hepatitis, veränderte Geschmacksempfindungen, Schüttelfrost ...“ Marius’ Stimme wurde immer lauter. „Der Beipackzettel ist ein einziger Horror!“
    „Woher weißt du das?“
    „Ich habe gefragt.“
    „Aber das muss doch nicht eintreffen. Es kann unter Umständen zu einigen dieser Symptome …“
    „Nein, Jakob!“, fiel ihm Marius ins Wort. „Auf keinen Fall!“
    „Vielleicht sollten wir mal zur Aids-Hilfe …“
    „Hast du noch so einen brillanten Vorschlag? Aids-Hilfe! Damit wir dort noch mehr Leuten aus der Szene begegnen, die herumerzählen, dass wir es auch haben?“
    „Aber die Leute da können uns beraten … denke ich.“
    „Wobei? Vermeidungsstrategien? Wie wir uns nicht infizieren? Ist wohl ein bisschen spät dafür.“ Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich und Marius stürmte mit großen Schritten dem Ausgang entgegen. Ein Mann auf Krücken, der einen eingegipsten Fuß hatte und vor der Tür eine Zigarette rauchte, sah ihnen nach.
    Im Auto saßen sie schweigend nebeneinander. Der Schlüssel steckte im Zündschloss, aber Marius machte keine Anstalten, den Anlasser zu bedienen. Jakob legte seinem Freund die Hand auf den Oberschenkel.

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