Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
Gefrierpunkt heruntergekühlt ist.
Ich habe es für mich allein, nur manchmal kommen ein paar alte Leute mit ledriger Haut. Sie lächeln angestrengt und machen Gymnastikübungen am Beckenrand.
Ich schaue auf die Digitaluhr, zähle die Zehntel- und Hundertstelsekunden. Heute muss ich es eine Minute länger als gestern aushalten. Mein Körper tut weh, meine Hände sind weiß.
Ein Bademeister fragt, ob alles in Ordnung sei. Ich sei nämlich schon ziemlich lange dort unten. Meine Nackenmuskeln sind steif und ragen wie eine Elf aus meinem Hinterkopf. Ich halte den Mund geschlossen, um nicht mit den Zähnen zu klappern. Ich nicke dem Bademeister zu, und er geht weiter.
Ich mache Fingerübungen. Wenn man nicht mehr mit allen Fingerspitzen an den Daumen kommt, war man zu lange im kalten Wasser. Ich habe ein Buch darüber aus der Bibliothek gestohlen, habe den Magnetstreifen mit einer Rasierklinge abgeschnitten und es in die Tasche gesteckt. Hypothermie heißt der Fachbegriff.
Der Maßstab, den man dafür anwendet, heißt Todeskurve.
Ich schaue auf die Uhr. Eine Minute länger ist geschafft, ich hieve mich aus dem kalten Wasser und stoße meinen Fuß an der Metalltreppe. Es wird erst später wehtun.
Auf steifen Beinen gehe ich an den Schwimmbecken entlang. Vorbei an schwimmenden Menschen und planschenden Kindern. Ich achte auf die Anzeichen, kräftiges Zittern ist eines von ihnen.
Ein anderes Anzeichen ist, dass man nicht mehr klar reden kann. Man nuschelt.
Auf dem Weg zur Umkleidekabine sage ich Zungenbrecher auf.
Fischers Fritz fischt frische Fische, frische Fische fischt Fischers Fritz .
Allerdings weiß ich nicht, ob man sich selbst nuscheln hört. Wenn die Gedanken wirr und steif werden, geht es den Worten wohl ebenso.
Ich sitze in der Sauna, bis ich Hände und Füße wieder spüren kann. Ich massiere die Muskeln am rechten Unterarm, die ich brauchen werde, wenn ich wieder vor der Leinwand stehe.
I ch sitze auf einer Bank gegenüber der Schule, trage mehrere Schichten Kleidung und zwei Paar Strümpfe in Winterstiefeln.
Ich sitze dort mit dem Zeichenblock, schraube den Deckel der Thermoskanne auf und benutze ihn als Becher. Es ist Dezember, der Kaffee dampft.
Zuerst zeichne ich das Schulgebäude. Lose Striche mit dem Kohlestift, dann die Details. Im Grunde sehe ich aus wie ein Student der Kunstakademie. Oder vielleicht der Architektur. Eine Prüfungsaufgabe. Architektur der frühen Siebziger. Würde mir jemand über die Schulter schauen, sähe er die Ungefährmaße, die ich dazugeschrieben habe.
Es klingelt, ich gehe zu dem Stacheldrahtzaun und schaue auf den Schulhof. Die Doppeltüren fliegen auf, und der Hof füllt sich mit Kindern.
Ein Aufseher kommt zu mir. Auch wenn ich keinen Wollmantel trage und keine Süßigkeiten in der Tasche habe, ist mir klar, dass ich zu lange dort gestanden habe.
Bevor er den Mund aufmacht, frage ich ihn, ob er weiß, wann die Schule erbaut wurde. Ich schlage eine neue Seite auf dem Notizblock auf, bereit, seine Antwort aufzuschreiben. Der Satz, auf den er sich vorbereitet hat, kommt nicht über seine Lippen. Er kratzt sich am Kopf und rät, wahrscheinlich in den frühen Siebzigerjahren.
Aber ich könne ja mit ihm ins Büro kommen, dort wüssten sie es sicher. Ich lächle, will keine Umstände bereiten, ich kann es ja auch nachschlagen.
Ich gehe weiter. Habe in den letzten zwei Tagen während mindestens fünf Pausen hier gesessen.
Die Privatschule ist die letzte auf meiner Liste, eine kleinere Schule mit wenigen Schülern. Sie kann nicht allzu alt sein, das Klettergerüst im Hof ist nicht verrostet, die Farbe blättert noch nicht davon ab.
Ich warte von der ersten Pause an, bis die Autos der Eltern vor dem Eingang vorfahren.
Nachts träume ich von einem Kohlestift, der so klein ist, dass ich ihn nur mit den Fingerspitzen halten kann.
Ich werde die ganze Welt zeichnen, sonst gerät sie aus den Fugen.
Am nächsten Morgen sitze ich wieder vor der Schule, in zwei Tagen beginnen die Weihnachtsferien.
Es klingelt zur großen Pause, die ersten zehn Minuten ist der Schulhof leer, weil die Kinder in den Klassenzimmern frühstücken. Dann kommen sie in kleinen Gruppen nach draußen. Ich stehe vor dem Zaun. Sehe ein kleines, blondes Mädchen mit seinen Freundinnen.
Ich erkenne sie an der Art, wie sie den Kopf hält. Ich gehe durch das Tor auf den Schulhof.
Sie sieht mich kurz an und geht weiter. Hat nur einen weiteren Erwachsenen gesehen, den sie nicht kennt. Aber nach ein
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