Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
Buchstaben sind groß und deutlich, damit sie ihn leicht lesen kann. Eine Entschuldigung, aber keine Erklärung. Neben dem Zettel liegt eine Monatsmiete extra. Auch im Verteilerzentrum werden sie bald herausfinden, dass ich nicht mehr zur Arbeit erscheine. Ich bin nicht der Erste dort, der durch Fernbleiben kündigt.
Der Zug fährt durchs Land, die Sonne geht auf, und Familien mit Geschenkpaketen steigen ein.
Ein kleines Mädchen in einer hellblauen Daunenjacke sitzt mir gegenüber. Es hat mit seiner Mutter gestritten, die weiter vorne sitzt.
Das Mädchen spielt mit den Schnürsenkeln seiner Stiefel, als der erste Krampf mich schüttelt. Vom Hals bis zu den Füßen ziehen sich alle Muskeln zusammen. Mein Körper erinnert sich an das kalte Wasser. Ich kralle mich an den Armlehnen fest, die Fingernägel bohren sich in den Kunststoff. Als ich die Kontrolle wiedererlange, sehe ich das Mädchen an, seine Augen sind weit aufgerissen, ich versuche zu lächeln, aber ich schmecke Blut im Mund. Ich muss mir auf die Zunge gebissen haben. Das Mädchen weint und läuft zu seiner Mutter.
Ich merke nicht, dass wir die Grenze überqueren. Plötzlich stehen deutsche Namen auf den Bahnhofsschildern.
Ich steige um in einen modernen Zug mit roten Streifen an der Seite. Nachdem ich einen freien Platz gefunden und den Rucksack abgestellt habe, gehe ich in den Speisewagen und bestelle eine Tasse Kaffee, ein Würstchen mit Senf und ein kleines Brötchen. Ich verschlinge das Essen in großen Bissen und habe den Kaffee erst halb ausgetrunken, als ich die Augen nicht mehr offen halten kann. Die ganze Nacht bin ich in der Stadt herumgelaufen. Jedes Mal, wenn eine Polizeisirene ertönte, musste ich mich zwingen, nicht zu rennen. Ich ging von Kneipe zu Kneipe und trank Kaffee, wartete auf den ersten Zug.
Mein Schlaf ist unruhig, er ist grün und dunkelblau.
Die Lautsprecheransage weckt mich, wir erreichen Berlin. Ich sehe Betonhochhäuser und kleine Parks mit nackten Bäumen. Als wir in den großen Bahnhof einfahren, verschwindet das Licht.
Ulrich steht auf dem Bahnsteig, er hält ein Schild aus Pappe, auf dem »Hr. Mehmet Faruk« steht. Er lacht und faltet es zusammen. Umarmt mich so fest, dass ich sein feuchtes Halstuch schmecke.
»Ich war überrascht, als der Wagen mit den Bildern kam«, sagt er. »Die sind ja alle neu.«
»Gefallen sie dir nicht?«
»Doch, verdammt, ich habe fast geheult.«
Große, nasse Schneeflocken landen auf unseren Köpfen, schmelzen und rinnen als Wassertropfen in den Nacken. Ein paar Blöcke weiter steht ein alter Renault. Ulrich benutzt das Pappschild mit meinem Namen, um den Schnee von der Windschutzscheibe zu fegen. Er rüttelt fest an der Tür, bis sie sich öffnet. »Man muss wissen, wie es geht«, sagt er. Ich steige ein und stelle die Füße zwischen Papiertüten mit Essensresten und Pappbecher mit Kaffeerändern.
Ulrich schaut in den Rückspiegel und zwängt das Auto in den Verkehr.
»Die Ausstellung soll die erste im neuen Jahrtausend werden, wir öffnen um Mitternacht.« Er reißt ein Stück Toilettenpapier von der Rolle, die auf der Handbremse steckt, und wischt das Fenster. »Die Presse darf sie natürlich vorher sehen. Wir wollen die Besprechungen am ersten Januar, aber nicht früher.«
Die Ampel wird rot. Ulrich bremst, das Auto rutscht über den nassen Asphalt und bleibt wenige Zentimeter vor einem Mercedes stehen.
Ich wische das Seitenfenster mit dem Ärmel, sehe Bürogebäude mit den Namen internationaler Firmen, Hotels und Glasfassaden. Doch langsam verändert sich die Stadt, und ich sehe Gemüsehändler und kleine Läden, die Meterware verkaufen. Viele der Schilder sind auf Türkisch.
»Die Galerie liegt in Neukölln. Ein paar Jahre können sie mich noch auslachen, aber Neukölln wird der neue Ort. Weißt du, dass David Bowie dort gewohnt hat?«
Wir fahren in eine Seitenstraße. Die Gebäude sind dunkel und schmutzig, etliche zerbrochene Fensterscheiben sind mit Pappe geflickt. Ulrich hält an, zieht die Handbremse, und wir steigen aus. Auf der anderen Straßenseite liegt die alte Metzgerei, ich erkenne sie von dem Bild wieder. Über dem Schaufenster hängt ein neues, schwarzes Schild, auf dem in weißen Buchstaben »Fleisch« steht.
»Der Metzger hat Gammelfleisch verkauft und musste schließen.«
Wir laufen um große Pfützen herum.
»Im Keller habe ich eine große Gefriertruhe gefunden, sie war voll mit Koteletts aus den Achtzigern.«
Ulrich schließt auf, und wir betreten
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