Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
Am Nachbartisch sitzt ein Mann mit einer fetten Silberkette um den Hals. Er hat Zeichnungen auf den Fingern. Sein Haar ist schwarz und kurz geschoren. Mein Vater meint, er sei wohl aus Bulgarien oder Rumänien. Er spielt mit einer Schachtel Streichhölzer und legt Muster auf den Tisch. Formt einen Stern. Wenn er alle verbraucht hat, sammelt er sie wieder ein und legt ein neues Muster. Als er mich ansieht, gucke ich schnell auf meinen Teller.
Mein Vater setzt sich mir gegenüber. Er hat einen Schluck Kaffee auf die Untertasse geschlabbert. »Was den Menschen von anderen Arten unterscheidet«, sagt er und wischt die Untertasse mit einer Serviette ab, »ist seine Anpassungsfähigkeit.«
Ich folge seinem Blick bis zu dem Mann in der Ecke. Er trägt Anzug und Schlips. Auf dem Stuhl neben ihm liegt eine braune Ledermappe. Sein glattes Haar ist links gescheitelt, am Kinn hat er einen kleinen Schnitt, wahrscheinlich vom Rasieren. Der Mann liest Zeitung, summt leise vor sich hin und isst Brötchen.
Mein Vater reicht mir zwei Zuckerwürfel, die ich lutschen darf.
G anz in der Nähe des Hotels befindet sich ein kleines Kino. Das Mädchen an der Kasse lächelt meinen Vater an und bringt uns Kaffee und Kakao, während wir warten, dass der Film beginnt.
Wir sehen uns deutsche, französische, russische und polnische Filme an.
Die Untertitel lese ich meistens nicht. Ich schaue auf die Bilder und entscheide selbst, was die Personen sagen.
Wir müssen einen Killerroboter im Keller bauen, Alexei.
Oder
Wann ist der Killerroboter fertig, Alexei?
Der Roboter steht immer dicht neben dem Bild, silberglänzend und bereit zum Angriff.
Es gibt fünf Würstchenbuden im Umkreis. Mein Vater meint, es sei wichtig, alle auszuprobieren, damit wir wissen, wer die besten Hotdogs macht. Es reicht nicht, an jeder Bude nur einen zu essen, man muss mehrmals wiederkommen.
Mein Vater isst sie mit allem, ich mag keinen scharfen Senf und keine rohen Zwiebeln. »Mit allem anderen«, sagt mein Vater zu Ulla in Ullas Wurstbude, zu Morten in der Sternen-Wurst und Sven in der Futterkrippe. Nach ein paar Besuchen wissen sie, was »mit allem anderen« heißt.
»Einen guten Hotdog kann man nicht essen, ohne fettige Finger zu bekommen«, sagt mein Vater mit Ketchup im Mundwinkel. »Nicht nur fettige Finger, eigentlich muss die ganze Hand verschmiert sein.«
Wieder schlafe ich zu neuen Geräuschen ein. Der pfeifende Laut aus den Nasenlöchern meines Vaters, der neben mir liegt. Der Straßenlärm, scharf bremsende Autos, quietschende Reifen auf nassem Asphalt. Betrunkene, die unter unserem Fenster lallen, schimpfen und rufen.
Mehrmals pro Nacht höre ich Schlägereien. Am Anfang wecken sie mich, und ich gehe zum Fenster. Der Türsteher des Stripclubs wirft einen Mann so fest hinaus, dass dieser einen Salto über eine Kühlerhaube schlägt, was einen ganz eigenen Laut macht.
Ich lerne, Polizeisirenen von Krankenwagensirenen zu unterscheiden. Auch das Hotel gibt Geräusche von sich. Betrunkene haben einen ganz besonderen Schritt und können schlecht flüstern.
»Wie viel?«, sagen sie. »Wie viel haben wir ausgemacht?«
Ich rücke dichter an meinen Vater heran. Wenn er sich im Schlaf kratzt, wird er mich kitzeln. Die ersten paar Nächte halten die Geräusche mich wach, sie sind fremd und aufdringlicher als an allen anderen Orten, an denen wir gewohnt haben.
E ines Morgens sagt mein Vater, die Sommerferien seien nun vorbei, es sei Zeit für die Schule.
»Nun kommt die zweite Klasse. Du musst damit rechnen, dass es viel schwieriger wird.«
Ich bekomme ein neues Fach auf dem Stundenplan, Geschichte. Wir beginnen mit dem Zweiten Weltkrieg. Das sei die beste Zeit, um den Geschichtsunterricht zu beginnen, sagt mein Vater.
Wir haben keinen Tisch, deshalb liegen wir auf dem Bett. Wenn mein Vater erzählt, sehe ich über dem Hoteldach fauchende Messerschmitts, die Rauchfahnen hinter sich herziehen.
An der Wand sehe ich Tiger-Panzer über grüne Hügel rollen, sie sind riesengroß und pflügen das Gras um. Aus ihren Kanonen kommen gelbe Flammen.
Eine ganze Woche brauchen wir für Hitler. Wir gehen in die Bibliothek und sehen uns Fotos von Hitler an, der eine Rede hält. Hitler, der den Arm in die Höhe streckt und mit allen Fingern in den Himmel zeigt. Hitler, der einen Hirsch streichelt. Mein Vater blättert weiter. Verwirrende Bilder. Zuerst erkenne ich nicht, was es sein soll, es sieht aus wie schwarze Schatten, die miteinander verknäult sind. Das sind
Weitere Kostenlose Bücher